Am 17. Oktober 2018 fährt eine Frau in Hamburg mit ihrem Pkw auf der rechten Seite einer zweispurigen Fahrbahn. Auf gleicher Höhe neben ihr fährt ein Lkw-Fahrer mit seinem Truck. Als ein Verkehrsschild mit dem Hinweis zur beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) auftaucht, geht die Pkw-Fahrerin davon aus, das sie als von rechts kommende Vorfahrt hat. Der Lkw-Fahrer übersieht allerdings den Pkw und zieht im Vertrauen auf eine freie Fahrspur nach rechts. Es kommt zum Unfall und die Gerichte entscheiden über mehrere Instanzen, dass sowohl die klagende Pkw-Fahrerin als auch der Lkw-Fahrer jeweils zur Hälfte an dem Unfall Schuld sind und somit auch jeder die Hälfte der entstanden Kosten zu tragen habe. Das Hamburger Landgericht hatte gegen seine Berufungsentscheidung eine Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe zugelassen – der BGH musste also prüfen, ob das Landesgericht bei seinem Urteil Rechtsfehler begangen hat. Jetzt hat der BHG seine Entscheidung vom 8. März 2022 veröffentlich.
Kein regelhafter Vorrang eines Fahrstreifens
Demnach weisen die Richter am BGH die Revision der Pkw-Fahrerin zurück (Aktenzeichen VI ZR 47/21): "Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht." Somit stellt der BGH eindeutig klar, dass es bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung keine Vorfahrt für die von rechts kommenden Fahrzeuge gibt. Vielmehr sind Aufmerksamkeit, Verständigung, gesunder Menschenverstand und Freundlichkeit gefragt, um die Situation zu meistern.
50-zu-50-Aufteilung der Schuld
Die Aufteilung der Schuld zwischen den Unfallbeteiligten zu gleichen Teilen haben sämtliche Instanzen für gerechtfertigt gehalten. Die Pkw-Fahrerin sei irrtümlich davon ausgegangen, dass sie Vorfahrt habe und der Lkw-Fahrer sei nicht aufmerksam genug gewesen, um die Pkw-Fahrerin überhaupt zu bemerken. Damit hätten sich beide Verkehrsteilnehmer ungefähr gleich schwer falsch verhalten. Eine eventuell vom Lkw als größerem Verkehrsteilnehmer ausgehende höhere Betriebsgefahr sahen die Gerichte im konkreten Fall nicht verwirklicht.
Keine Verständigung – Vorfahrt des anderen
Die Richter am BGH erklären ihre Entscheidung: Bei einer einseitig verengten Fahrbahn endet eine Fahrspur und die Fahrzeuge auf der verengten Seite fädeln sich im Reißverschlussverfahren in die verbliebene Fahrspur ein. Bei einer beidseitig verengten Fahrbahn verschmelzen allerdings beide Fahrspur zu einer einzigen. Dies führt zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahme-Pflicht im Bereich der Engstelle. Die Richter betonen: "Gelingt die Verständigung nicht, sind sie dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen."
Fazit
Ein unaufmerksamer Lkw-Fahrer und eine Pkw-Fahrerin, die irrtümlich davon ausgeht, sie habe Vorfahrt, fahren auf eine beidseitige Fahrbahnverengung zu – so ist ein Unfall programmiert. Die Pkw-Fahrerin hat jetzt höchstinstanzlich vom Bundesgerichtshof (BGH) entscheiden lassen, wer bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung Vorfahrt hat: niemand.
Die Richter betonen, dass an so einer Gefahrenstelle Aufmerksamkeit, gegenseitige Rücksichtnahme und Verständigung untereinander geboten sind – so, wie es § 1 StVO vorsieht. Der Lkw-Fahrer war unaufmerksam – er hätte das Auto der Pkw-Fahrerin bemerken müssen. Die Pkw-Fahrerin wiederum pochte auf ein Vorfahrtsrecht, dass sie gar nicht hatte. Sie konnte sich zwar nicht mit dem unaufmerksamen Lkw-Fahrer verständigen, dann hätte sie diesem aber laut Gericht den Vortritt gewähren müssen – nur so lässt sich in dieser Situation ein Unfall vermeiden. Somit bestätigt der BGH die vorinstanzlichen Urteile, die von einer gleich schweren Schuld der Unfallbeteiligten ausgehen, was auch zu einer 50-zu-50-Aufteilung der Schadenssumme zwischen den beiden führt.