Wenn Menschen ein Auto besitzen, dann aus einem zentralen Grund. Sie wünschen sich die größtmögliche Flexibilität, wenn es um die Erfüllung ihrer Mobilitätsbedürfnisse geht. Seit Elektroautos das Angebot immer stärker durchdringen, steht dieses Anliegen noch mehr im Fokus als zuvor. Denn die inzwischen viel zitierte Reichweitenangst führt bei vielen Autofahrerinnen und Autofahrern zur Befürchtung, ein E-Auto könne dieses Grundbedürfnis nicht befriedigen. Was, wenn ich kurzentschlossen losfahren will oder muss, aber der Akku nicht geladen ist? Ist ein Stromer überhaupt langstreckentauglich? Nur zwei von vielen zentralen Fragen, die vor einer Kaufentscheidung eher zuungunsten eines Elektroautos ausgelegt werden.
Nur 12,6 % der Reichweite wird genutzt
Dabei sind diese Gedanken in den meisten Fällen unnötig. Das ist zumindest das Ergebnis einer neuen Erhebung des US-Start-ups Reccurent, das seit 2020 die Daten von mehr als 40.000 in den USA zugelassenen und vernetzten Elektroautos auswertet – mit dem Ziel, "mehr Transparenz und Vertrauen in Transaktionen mit Elektroautos zu schaffen". Und die Analysten sind nun zu einer interessanten Erkenntnis gekommen: Die Fahrerinnen und Fahrer kratzen das Reichweiten-Potenzial ihrer Elektroautos im Alltag gerade einmal an!
Konkret in Zahlen ausgedrückt: Im Schnitt nutzen die Fahrerinnen und Fahrer eines Elektroautos in den USA täglich nur 12,6 Prozent der möglichen Reichweite. Das bedeutet im Umkehrschluss: 87,4 Prozent der zur Verfügung stehenden Energie verbleibt unverbraucht im Akku, der damit theoretisch nur einmal pro Woche geladen werden muss.
Je größer der Akku, umso weniger Potenzial wird genutzt
Zwar legen Menschen, die ein Auto mit großer Reichweite (604 bis 644 Kilometer; die Zahlen kommen wegen der Umrechnung von Meilen in Kilometer zustande) nutzen, im Schnitt größere Strecken zurück. Ihr täglicher Weg beträgt demnach knapp 66 Kilometer, während die Nutzerinnen und Nutzer eines reichweitenschwachen Modells (121 bis 161 Kilometer) nur etwas weniger als 36 Kilometer zurücklegen. Dafür wird ein größerer Anteil der zur Verfügung stehenden Energie genutzt, je kleiner die mögliche Reichweite ist:
- EVs mit 121 bis 161 Kilometern Reichweite: nur 22,8 Prozent davon werden täglich genutzt
- EVs mit 483 bis 523 Kilometern Reichweite: nur 12,0 Prozent davon werden täglich genutzt
- EVs mit 563 bis 604 Kilometern Reichweite: nur 11,3 Prozent davon werden täglich genutzt
- EVs mit 604 bis 644 Kilometern Reichweite: nur 7,9 Prozent davon werden täglich genutzt
Hier kommt laut Reccurent die eingangs erwähnte Reichweitenangst ins Spiel. Dass die Käuferinnen und Käufer dazu neigen, zu Elektroautos mit möglichst großer Reichweite zu greifen, gebe ihnen "eine psychologische Sicherheitsdecke" – Stichwort größtmögliche Flexibilität im Mobilitätsverhalten. Und das hat direkte Auswirkungen auf die Finanzen dieser Personen. Denn die zusätzliche Reichweite erkaufen sie sich mit deutlichen Mehrkosten bei der Anschaffung – um sie daraufhin meist ungenutzt in der Batterie verharren zu lassen.
VW ID.3: 10.700 Euro für 180 Extra-Kilometer
Wie viel das ausmachen kann, verdeutlicht das Beispiel des VW ID.3, der im Juli 2025 Deutschlands absatzstärkstes Elektroauto war. Wer sich mit dem Pure-Einstiegsmodell und dessen 52-Kilowattstunden-Batterie begnügt, die eine WLTP-Reichweite von 388 Kilometern ermöglicht, zahlt einen Listenpreis von 33.330 Euro. Lediglich 46 zusätzliche Reichweiten-Kilometer kosten beim ID.3 in Form des Pro-Modells mit 59-kWh-Akku über 3.000 Euro mehr (Listenpreis 36.425 Euro). Mit dem dicksten Akku und 180 Extra-Kilometern beträgt der Aufpreis beim ID.3 sogar fast 10.700 Euro (Modellversion Pro S mit 79-kWh-Batterie und 568 km WLTP-Reichweite).
Viel Geld für ein etwas ruhigeres Gewissen dank geringerer Reichweitenangst und angesichts der Tatsache, dass das bezahlte Potenzial längst nicht ausgeschöpft wird. Zumal die prozentualen Preisunterschiede beim VW ID.3 im Großen und Ganzen auch auf andere Elektroautos anwendbar sind, wenn es gilt, sich eine größere Reichweite per größerer Batteriekapazität zu erkaufen.
E-Auto-Kauf besiegt die Reichweitenangst
Eine weitere Erkenntnis der Reccurent-Untersuchung zeigt ein anderes interessantes Phänomen: Bei Menschen, die sich ein E-Auto gekauft haben, nimmt die Reichweitenangst drastisch ab. Vor dem Kauf herrscht im Schnitt bei 48 Prozent der Interessenten dieses ungute Gefühl. Danach zeigen nur noch 22 Prozent dieses Phänomen – also nicht einmal die Hälfte. Und die Reichweitenangst nimmt mit zunehmender Nutzungsdauer und Fahrleistung eines Elektrofahrzeugs weiter ab. Ein starkes Indiz dafür, dass die angebotenen Modelle im Alltag durchaus jene Mobilitäts-Flexibiltät ermöglichen, die ihnen oft abgesprochen wird. Und indirekt übrigens dafür, dass die Ladeinfrastruktur besser ist als ihr Ruf und auch im E-Auto meist problemlos lange Strecken zurückgelegt werden können.
Laut Reccurent zeigen die Ergebnisse noch etwas anderes. Nämlich dass der aktuelle "Reichweitenwettlauf” der Autoindustrie teure Lösungen für Probleme schafft, die gar nicht oder nur für einen kurzen Moment existieren. "Ein Elektrofahrzeug mit einer Reichweite von 200 Meilen (knapp 320 Kilometer; d. Red.) könnte 99 Prozent der täglichen Nutzungsmuster abdecken, doch die Hersteller erhöhen die Kosten und das Gewicht für eine Reichweite, die oft ungenutzt bleibt", heißt es in der Veröffentlichung. Das Analyse-Start-up fordert deshalb mehr kostengünstige Einstiegsmodelle, die auf die wahren Bedürfnisse von E-Mobilisten zugeschnitten sind.
Hinweis: In der Fotoshow über dem Artikel präsentieren wir Ihnen die zentralen Erkenntnisse der Recurrent-Untersuchung in anschaulichen Grafiken – und zudem die zehn aktuell reichweitenstärksten Elektroautos auf dem deutschen Markt.