Europas dienstältester Autobahnpolizist Raymond Lausberg im Interview

Europas dienstältester Autobahnpolizist
„Auf der Straße herrscht Krieg“

Veröffentlicht am 18.01.2025
Polizeifotos Bericht Interview. War 47 Jahre bei der Autobahnpolizei: Raymond Lausberg.
Foto: Claudius Maintz
Was war der letzte Verstoß Ihrer Amtszeit?

Der Letzte war zehn Wochen im Lkw. Laut EU-Recht darf er maximal vier Wochen am Stück auf Tour sein, bis er in sein Heimatland zurückkehren muss. In den Wochen davor hatte ich einen Usbeken und einen Tadschiken, die jeweils neun Monate lang in der Fahrerkabine gehaust haben. Was viele vergessen: Das EU-Recht ist ein Sozialrecht und wurde nicht gemacht, um die Fahrer zu bestrafen, sondern um sie zu schützen. Damit sie ihre Familien und Freunde zu Hause wiedersehen. An meinem letzten Tag hielten sich von vier gezielt ausgesuchten Sattelzügen alle vier Unternehmen nicht an die Sozialvorschriften. In Zahlen: 5, 6, 10 Wochen und einer gleich 4 Monate nicht mehr bei seiner Familie.

Wie wird hier getrickst?

Da werden falsche Bescheinigungen ausgestellt, dass der Fahrer seine wöchentliche Ruhepause von 45 Stunden wie vorgeschrieben nicht im Führerhaus, sondern in geeigneten Schlafräumen der Spedition verbracht hat. Oft wird auch ein Hotel reserviert und gleich wieder storniert. Bei Kontrollen zeigt man uns dann nur die Reservierung. Die Rechnung dürfen wir laut EU-Recht nicht kontrollieren.

Sie fragen die Fahrer immer, was sie pro Tag verdienen. Wie lautet die Antwort?

Momentan hat es sich bei 60, 70 Euro pro Tag eingependelt. Nimmt man den deutschen Mindestlohn, müssten es bei zehn Arbeitsstunden eigentlich 125 Euro sein. Das heißt, der Chef betrügt seinen Fahrer um mindestens 55 Euro pro Tag.

Sind Waren deshalb so billig?

Wir tragen alle unsere Mitschuld an dieser Situation. Keiner denkt daran, dass man für faire Löhne auch vernünftige Frachtpreise zahlen muss. Jeder von uns hat bestimmt schon einmal etwas im Internet mit dem Vermerk "gratis Lieferung" bestellt. Hat man sich schon einmal die Frage gestellt, wie viel der Fahrer verdient? Das meiste kann man über ihn einsparen, dessen Lohn ein Drittel vom Transportpreis ausmacht. Andere sparen an der Wartung, der Zustand kontrollierter Lkw wird immer schlechter. In meiner letzten Kontrolle hatte ich einen, da waren die Bremsen an der Antriebsachse komplett ausgefallen. Eine tickende Zeitbombe! Andere hinterziehen die Mineralölsteuer, indem sie mit entfärbtem Heizöl statt mit Diesel fahren.

Ist das nicht unfair gegenüber ehrlichen Speditionen?

Wir müssen die familiengeführten Speditionen schützen, die zum Teil seit hundert Jahren bestehen. Da braucht man nur einen Blick auf die Konkursverfahren zu werfen. Da sieht man dann, wie viele von denen in den vergangenen Jahren pleitegegangen sind. Das sind hunderte! Sie sind dieser Billigkonkurrenz völlig machtlos ausgesetzt.

Lkw-Fahrer aus osteuropäischen EU-Ländern sind längst zu teuer. Wo kommen die Fahrer überall her?

Ich hatte jetzt einen aus Peru. Wenn ein Fahrer dort zum Beispiel 150 Euro pro Monat verdient und hier 1.800 bis 2.000, dann ist das für den bei uns wie im Schlaraffenland. Dann weiß der zwar, dass er ausgebeutet wird, verdient aber im Vergleich zu den noch schlechteren Löhnen in seiner Heimat immer noch ganz gut.

Polizeifotos Bericht Interview. War 47 Jahre bei der Autobahnpolizei: Raymond Lausberg.
Claudius Maintz
Wie hoch ist die jährliche Bußgeld-Summe in Ihrem Revier?

Wir dokumentieren bei Sozialdumping-Kontrollen 600 bis 700 Verstöße pro Jahr alleine an den Autobahnen E40 und E42. Da kommt immer weit über eine Million an Bußgeldern zusammen. Lkw aus Litauen fallen besonders auf: Bei mehr als 90 Prozent der Lkw aus diesem Land gibt es Beanstandungen.

Wie viele Verkehrstote haben Sie gesehen?

Mehr als 200. In den ersten Jahren als Autobahnpolizist waren es insgesamt etwa 40 Tote pro Jahr, jetzt sind es zwischen 20 und 25. Dabei handelte es sich meistens um Verkehrstote, viele Selbstmorde und leider auch 2 Morde.

Gab es ein prägendes Erlebnis?

1997 gab es einen Unfall, bei dem zwei junge Menschen gestorben sind. Ungesicherte Blechprofile waren von einem Lkw auf ihr Auto gefallen und haben beide geköpft. Seitdem beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Ladungssicherheit und halte hierzu auch Vorträge. Zehn Jahre vorher war ich beim Tod von drei Müllwerkern im Einsatz. Sie mussten auf einer Brücke über die Maas verlorenen Getränkekisten ausweichen und sind im Fluss ertrunken. Wegen solcher Ereignisse habe ich mich zum Ladungssicherungsspezialisten ausbilden lassen, an einer Gesetzesänderung mitgewirkt. Ich schule seit mehr als 15 Jahren unter anderem Polizisten und Fahrer, berate zudem Firmen in dieser lebenswichtigen Thematik.

Auf dem Papier wurden die Rechte der Fahrer in den vergangenen Jahren verbessert, Strafen verschärft …

Ohne Kontrollen ist das beste Gesetz nichts wert. In Belgien warten wir seit mehr als dreieinhalb Jahren auf die Anpassung des Bußgeldkatalogs. Die Lobbyisten der Industrie haben gar kein Interesse daran, dass sich etwas ändert. Die aktuellen Kampfpreise sind erwünscht. Die menschlichen Schicksale, die sich dahinter verbergen, scheinen niemanden zu interessieren. Die Fahrer werden weiterhin weit unter Mindestlohn fahren und sitzen zu oft in miserabel gewarteten Fahrzeugen mit gravierenden technischen Mängeln.

Warum gibt es so wenige Kontrollen?

Oft wird zu viel gespart oder Verkehrspolizisten zum Beispiel für Aufgaben der Schutzpolizei abgestellt. Dabei finanziert ein guter Verkehrspolizist nicht nur sich selbst durch die eingenommenen Bußgelder, sondern noch sein Auto und zehn andere Beamte. Im Moment habe ich den Eindruck, dass auf der Straße Krieg herrscht. Viele Speditionen erlauben sich sehr viel, weil sie wissen: Sie werden sowieso fast nie kontrolliert. Dass die mal kontrolliert werden, wird einkalkuliert.

Was müsste in der Stellenanzeige für Ihren Nachfolger stehen?

Geduld, Fleiß, Hartnäckigkeit, Intuition, Menschenkenntnis. Und man darf auch keine Angst haben, mal anzuecken. Es fehlt uns an fähigen Beamten, die beim Auslesen des digitalen Fahrtenschreibers auch zwischen den Zeilen lesen können. Oft sehe ich, dass bei vorangegangenen Kontrollen Verstöße übersehen worden sind. Etwa, wenn ein Fahrer während einer angeblichen Pause mit einer zweiten Fahrerkarte einfach 60 Stunden ohne Pausen weitergefahren ist. Hier hätte man sehen müssen, dass die Fahrt in Österreich endete und morgens in Frankreich weiterging. Einige Kollegen verlassen sich leider blind auf die Analysesoftware.

Was würden Sie Deutschland empfehlen?

Weniger Bürokratie. In Belgien kann ich ein Bußgeldverfahren bis 5.500 Euro noch direkt nach der Kontrolle abschließen und auch gleich das Geld einnehmen. In mehr als 90 Prozent der Fälle zahlt der die Firma direkt und die Sache ist erledigt. Ich bin Polizist und Bußgeldstelle in einer Person.

Haben die Fahrer so viel Geld dabei, um sofort zu bezahlen?

Die haben alle Firmen-Kreditkarten an Bord. Wenn sie Strafe zahlen sollen, rufen sie ihren Chef an und der lädt die Karte in Höhe des Bußgeldes auf. Die meisten fahren Just-in-Time, müssen also pünktlich abliefern. Passiert das nicht, drohen Vertragsstrafen, die höher sind als unser Bußgeld. Dann wird lieber das schnell bezahlt. Am schnellsten geht das bei Luftfracht. Die wollen keine Zeit verlieren. Das Bußgeld wird einkalkuliert.

Wie effektiv sind Lkw-Kontrollen?

Nehmen wir das Revier meiner Dienststelle, also die E40 zwischen Lüttich und Aachen. Da fahren fahren ungefähr 2,5 Millionen Lkw pro Jahr lang. Auf der E42 sind es 600.000. Davon kontrollieren wir 5.000, also 0,16 Prozent. Aber solche Statistiken sind immer mit Vorsicht zu genießen. Würde wir mehr Bagatell-Delikte kontrollieren, wären die Werte vermutlich höher. Aber dann lässt man die wirklich gefährlichen Fahrzeuge ziehen, bei denen die Prüfungen manchmal zwei Stunden dauern können. Die Qualität der Kontrollen ist entscheidend, nicht die Quantität.

Ihre Trefferquote liegt bei mehr als 80 Prozent. Wie ist das möglich?

In den vergangenen zwei Jahren haben die Firmen, die immer wieder negativ aufgefallen sind, ihre Namen von den Lkw entfernt. Also überprüfe ich Lkw mit weißen Planen. Verdächtig ist auch, wenn der Auflieger ein deutsches oder belgisches Nummernschild hat und die Zugmaschine aus Litauen kommt. Seit Jahren haben wir die Großkontrollen fast komplett abgeschafft, bei denen wir praktisch jeden vorbeifahrenden Lkw angehalten haben. Wir fahren mit unserer Taktik, dass jeder Beamte sich sein Fahrzeug selbst aussucht, wesentlich besser. Somit erzielen wir bei solch selektiver Auswahl Trefferquoten weit über 80 Prozent. Einige Speditionen verbieten ihren Fahrern deshalb sogar, die E40 zwischen Aachen und Lüttich zu befahren. Das zeigt: Effektive Kontrollen bringen was.

Viele Fahrer haben Angst, dass ihnen die Strafe für den Spediteur am Ende doch vom Lohn abgezogen wird.

Zwei solche Fahrer habe ich neulich kontrolliert. Da habe ich noch von der Autobahn aus in deren Beisein die Europäische Transport-Gewerkschaft angerufen und organisiert, dass die Fahrer in so einem Fall einen Rechtsbeistand bekommen. Beide Fahrer haben sich am Ende bei mir für die Kontrolle bedankt.

Sogar an der Aufklärung eines Mordes waren Sie beteiligt …

Ja. Ein Transporterfahrer hat einen Lkw-Fahrer in der Baustelle ausgebremst. Auf einem Rastplatz trafen beide aufeinander und stritten, bis der Transporterfahrer seinen Kontrahenten mit dem Auto überfahren hat. Das Ausbremsmanöver konnte ich im digitalen Fahrtenschreiber genau sehen und über eine Wegstreckenanalyse den Ort dieses Ausbremsens ermitteln. Dort standen Kameras und mithilfe der Aufnahmen konnte der Täter sechs Tage später festgenommen werden. Im September musste ich dann als Zeuge meine Ermittlungen bei der Verhandlung erklären. Der Täter wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Alkohol ist ein Problem vieler Fernfahrer. Warum?

Da ist viel Frustsaufen dabei, weil die viele Monate von ihren Familien weg sind, die Standzeiten an Wochenenden sind lang und dann wird eben die Zeit totgesoffen. Lauter einer Schätzung fahren täglich etwa 7.000 Fahrer mit Alkoholproblemen auf deutschen Autobahnen.

Vita

Raymond Lausberg (66) ist seit 47 Jahren bei der belgischen Autobahnpolizei. Ende des Jahres geht der Erste Hauptinspektor und Leiter der Schwerlastkontrollgruppe der Autobahnpolizei in Battice in Pension. Lausberg stammt aus dem deutschsprachigen Ostbelgien. Er hält Vorträge auf Polizeischulungen und Verkehrssicherheitskonferenzen in ganz Europa. Seit einem tödlichen Unfall mit zwei jungen Menschen 1997 gilt sein besonderes Interesse dem Thema Ladungssicherug. Wie viele Belgier spricht er mehrere Sprachen: Deutsch, Französisch, Niederländisch und Englisch.