Die Lage war und ist nach wie vor herausfordernd. Die Autoindustrie meistert gerade die größte Transformation ihrer Geschichte. Und ob Corona-Krise, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder die anderen weltweiten Krisen und Konflikte – die geopolitischen Entwicklungen haben uns eindrucksvoll vorgeführt, dass unser bisheriges Wirtschaftsmodell kein automatischer Wohlstandsgarant mehr ist. Und: Die zunehmende Schwäche des Standortes Europa wurde in den letzten Jahren zunehmend schonungslos offengelegt. Während die Politik in Berlin und Brüssel gefordert ist, Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität endlich entschlossen anzugehen, zeigt unsere Branche immer wieder auf eindrucksvolle Weise, wie wir mit Innovationen, Investitionen und Engagement die Herausforderung annehmen.
Mobilität bedeutet Teilhabe. Und auch in der Zukunft der Mobilität wird das Auto eine Schlüsselkomponente sein – und dabei gleichzeitig eine von vielen Dimensionen der Mobilität. Übrigens hält ein Großteil der Bevölkerung das Auto für den privaten Alltag für unverzichtbar. Bei einer Allensbach-Umfrage stimmten zuletzt 74 Prozent dieser Aussage zu – der Anteil derer, die über ein Auto verfügen und gleichzeitig sagen, dass sie problemlos darauf verzichten könnten, liegt bei lediglich drei Prozent. Wer eine Zukunft ohne Autos will, hat weder die Lebensrealitäten bei uns noch anderswo in der Welt im Blick. Dies gilt besonders in den ländlichen Räumen. Übrigens wollen auch wir verkehrsärmere Innenstädte – mit überlegten Konzepten. Und wir erfinden das Auto immer wieder neu – machen es nachhaltiger, innovativer, sicherer, digitaler und klimafreundlicher, entwickeln Lösungen für unterschiedlichste Lebenswirklichkeiten. Wir müssen moderne Lösungen vorleben – auch und gerade mit Blick auf die wachsenden Volkswirtschaften wie in China, Indien, Afrika, in denen sich der Mobilitätsbedarf erst noch entwickelt.
Natürlich werden die Menschen durch so eine Politik verunsichert. Und der Einbruch der Absatzzahlen in diesem Jahr spricht ja eine deutliche Sprache. Wichtig ist jetzt: Das Vertrauen der Menschen in die Elektromobilität muss gestärkt und die Verbraucher zum Umstieg motiviert werden. Hierfür sind die Rahmenbedingungen entscheidend: Dazu gehört insbesondere das Vertrauen, immer und überall einfach laden zu können. Der Nachholbedarf ist enorm: In rund vier von zehn Gemeinden gibt es keinen einzigen öffentlichen Ladepunkt, in drei von vier gibt es keinen öffentlichen Schnellladepunkt. Auch der für eine funktionierende Struktur notwendige Ausbau der Stromnetze darf nicht weiter vernachlässigt werden. Fest steht: Die deutsche Autoindustrie ist entschlossen, die Gesellschaft für unsere Lösungen zu begeistern und sie zu motivieren, ihren Beitrag auf dem Weg zur klimaneutralen Mobilität zu leisten.
Elektromobilität heißt für viele Menschen, Gewohntes hinter sich zu lassen – so ist Tanken beispielsweise anders als Laden. Und oft überschätzen die Menschen ihren Fahrbedarf. Ich bin dennoch überzeugt: Die Trendwende hat schon begonnen. Wer einmal elektrisch gefahren ist, ist begeistert! Gleichzeitig müssen Berlin und Brüssel notwendige Reformen angehen. Ganz einfach gesagt: Es muss schneller, einfacher und digitaler werden. Die deutsche Automobilindustrie investiert Rekordsummen in die Transformation – damit alles funktioniert, muss die Politik bei den Reformen ebenfalls Fahrt aufnehmen.
Das Ziel der Bundesregierung von 15 Millionen E-Autos in Deutschland im Jahr 2030 ist sehr ambitioniert. Gleichzeitig gilt: Allein die deutschen Hersteller werden bis zum Jahr 2030 deutlich mehr als 15 Millionen batterieelektrische Fahrzeuge produzieren. In welchen Märkten diese Fahrzeuge hergestellt und abgesetzt werden, hängt von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab: Weder für die Verbraucher noch für die Automobilindustrie stimmen diese in Deutschland aktuell.
Es gibt das grundsätzliche Problem, dass die Politik ambitionierte Ziele setzt, dabei auch noch vorgeben will, mit welchen Technologien sie erreicht werden sollen, gleichzeitig aber die entscheidenden Rahmenbedingungen vernachlässigt. Wir haben immer wieder auf die Notwendigkeit von Rohstoff- und Energiepartnerschaften sowie den Abschluss von Handelsabkommen hingewiesen – doch Brüssel agiert hier zu langsam oder verliert sich in Detailfragen. Die Automobilbranche leidet, wie die Wirtschaft insgesamt, unter einer ausufernden Bürokratie, infrastrukturellen Problemen, im Standortvergleich zu hohen Energiekosten und einem Mangel an Fachkräften. Die Herausforderungen sind groß, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts leidet immer mehr, und Berlin und Brüssel steuern nicht entschlossen dagegen an.
Es braucht eine ehrliche Bestandsaufnahme: Sind die Rohstoffe, die Halbleiter und vor allem die Infrastruktur in Europa vorhanden, um einen schnellen Hochlauf der E-Mobilität zu ermöglichen? Je unehrlicher die Analyse, desto schwerer wird es, das Ziel zu erreichen. Und zum anderen geht es darum, nicht Symptome zu bekämpfen, sondern die Ursachen. Standort und Wettbewerbsfähigkeit müssen Prioritäten in Berlin und Brüssel sein: Gute Standortbedingungen sind die beste Versicherung gegen wachsenden Wettbewerb – gerade für eine so exportorientierte Industrie wie unsere.
Ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, wenn ich sehe, was unsere Industrie leistet und mit welcher Leidenschaft und Entschlossenheit unsere Unternehmen alles dafür tun, damit unsere Industrie deutsche Leitindustrie bleibt: Wir investieren allein von 2024 bis 2028 weltweit rund 280 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Der Fokus liegt auf der Transformation, insbesondere der Elektromobilität inklusive Batterietechnik, dem autonomen Fahren sowie der Digitalisierung. Weitere über 130 Milliarden Euro kommen für den Neubau und Umbau von Werken noch hinzu.
Die Preise von E-Autos sind noch herausfordernd, aber Skaleneffekte und Technologiesprünge werden dazu führen, dass die Kosten sinken werden. Derzeit haben die deutschen Hersteller weltweit über 130 elektrische Modelle im Angebot – und in diesem und im nächsten Jahr werden es noch mal deutlich mehr. Da ist für jeden Bedarf das passende E-Auto dabei. Übrigens stammt aktuell jeder zweite E-Kleinwagen, der in Deutschland neu zugelassen wird, von einem deutschen Hersteller.
Die deutsche Automobilindustrie ist eine der innovativsten Branchen der Welt. 2023 sind die zehn anmeldestärksten Unternehmen beim Deutschen Patentamt allesamt Automobilhersteller oder Zulieferer. Acht davon haben ihren Sitz in Deutschland. Mit Blick auf China: Hier verfolgt die Politik ein Konzept der starken Subventionierung. Es wird politisch vieles unternommen, um Weltmarktführer hervorzubringen. Doch lässt sich dort auch beobachten, dass eine Phase der Konsolidierung beginnt und erste Marken bereits wieder vom Markt verschwinden. Ich war gerade auf der Auto China in Peking und bin davon überzeugt, dass die deutsche Autoindustrie weiterhin innovativ führend und ganz vorne mit dabei sein wird. Gerade in dem Wertschöpfungsansatz der gesamten Lieferkette und bei der Nachhaltigkeit haben wir mehr zu bieten als relevante Wettbewerber.
Wir sind nach wie vor Weltspitze. Auf der Auto China, letztes Jahr auf der IAA Mobility oder auf der anstehenden IAA Transpotation: Immer wieder zeigen die deutschen Hersteller, dass sie bei den Zukunftsthemen nach wie vor führend sind. Sei es bei KI-Anwendungen oder beim automatisierten Fahren – wir schaffen die Abstimmung aller Einzelsysteme im Fahrzeug zu einem harmonischem und begeisternden Gesamterlebnis. Und auch in Sachen Ressourceneinsatz, CO₂-Fußabdruck und Kreislaufwirtschaft stehen deutsche Automobile in der ersten Reihe.
Vita
Hildegard Müller, Jahrgang 1967, ist seit 2020 Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Vor ihrem Betriebswirtschaftsstudium Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Dresdner Bank AG in Düsseldorf; dort war sie zuletzt Abteilungsdirektorin. Von 2002 bis 2008 Mitglied des Deutschen Bundestages, zudem von 2005 bis 2008 Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin. Ab 2008 Vorsitz der Hauptgeschäftsführung beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft in Berlin, ab 2016 Mitglied des Vorstands bei der innogy SE.