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Neue Autoassistenzsysteme für Autos
Unfallverhütung durch Motorraderkennung

Auto versus Motorrad: Wenn es eng wird, sind viele Assistenzsysteme noch überfordert. Was tun Zulieferer und Hersteller, um schwere Unfälle zu vermeiden?

Autosicherheitssysteme und Motorräder, Sicherheitskampagne
Foto: Hans-Dieter Seufert

Sie kommen aus allen Richtungen. Teilweise überholen Motorradfahrer sogar auf der imaginären Mittelspur im Stau. Klar, erlaubt ist das nicht. Aber wo keiner klagt, da richtet eben auch keiner. Oft sind es gar nicht diese Situationen, die zu gefährlichen Konflikten zwischen beiden Parteien führen. Meist ist es ein ganz anderes Fehlverhalten von Auto- und Motorradfahrern.

Aber was sind genau die Ursachen, wenn es zum Unfall kommt? Oft liegt es schon an der mangelnden Kenntnis des jeweils anderen Gefährts und seiner Eigenheiten. Das beschreiben auch die Kollegen Streblow und Dralle im Interview – und die Statistik gibt ihnen recht. In den meisten Fällen tragen nämlich Autofahrer die Hauptschuld, wenn es zwischen motorisierten Zwei- und Vierrädern kracht, wie die Auswertung der German In-Depth Accident Study – kurz GIDAS – zeigt.

Rücksicht hat Vorfahrt

Moderne Technik soll hier Abhilfe schaffen – nicht allein beim Motorrad. Durch Spurhalter, bessere LED-Leuchten und Totwinkelwarner werden Autos immer sicherer, wovon alle Verkehrsteilnehmer profitieren. Gerade die Motorradunfälle an Kreuzungen geschehen, weil Autofahrer das Zweirad übersehen oder falsch einschätzen. Das ist immer noch die häufigste Unfallursache zwischen Pkw und Motorrad (31 Prozent). Hier kann die Technik helfen.

Auf dem zweiten unrühmlichen Rang liegt der Spurwechsel, bei dem Pkw-Fahrer das Bike übersehen und abräumen (18 Prozent). An dritter Stelle rangiert das Linksabbiegen mit 13 Prozent. Das wird dem Biker zum Verhängnis, weil der abbiegende Autofahrer auch hier das entgegenkommende Zweirad übersieht oder dessen Tempo falsch einschätzt.

Wenig Beachtung geschenkt

Autosicherheitssysteme und Motorräder, Sicherheitskampagne
ADAC
Wenn Pkw und Krad aufeinanderprallen, ist der Motorradfahrer meist das Opfer.

Deshalb sollten die Assistenzsysteme beim Thema Sicherheit ansetzen, was aber nicht bei allen Herstellern der Fall ist. Noch immer hat sich nicht überall herumgesprochen, dass Motorradfahrer mit Abstand zu den gefährdetsten Verkehrsteilnehmern zählen. Laut OECD ist das Risiko für sie bis zu 30 Mal höher als für andere, im Verkehr ihr Leben zu lassen. Da sie aber nur eine Minderheit im Straßenverkehr stellen, scheinen sie bei vielen Entwicklungen und Gesetzentwürfen im wahrsten Sinne unter dem Radar zu fliegen.

Obwohl moderne Autos heute oft mit mehreren Dutzend Sensoren aus Radar-, Lidar-, Kamera- und Ultraschalleinheiten ausgestattet sind, tun sie sich schwer bei der Motorraderkennung. Gerade frühe und einfache Assistenzsysteme haben unter erschwerten Bedingungen wie Regen und Nebel große Probleme, die schmalen Kradsilhouetten zu detektieren.

Bedauerlicherweise nahm die Euro NCAP (European New Car Assessment Program) erst im Jahr 2017 Unfallszenarios für Motorräder in die Roadmap 2020/2025 auf, was im sogenannten MUSE-Projekt (Motorcycle User Safety Enhancement Project) mündete. Ein Ergebnis aus dem Projekt: 2019 wurde unter anderem zusammen mit der Marke BMW, die schon seit 2015 an dem Thema dran ist, und dem Dummy-Hersteller 4activeSystems die erste Motorrad-Crashtest-Puppe entwickelt.

Mit ihr kann jetzt das Unfallverhalten beim Zusammenstoß mit Krädern ermittelt werden. "So etwas gab es unseres Wissens nach vorher schlicht nicht", erklärt Ulrich Zoelch, Experte für Fahrzeugsicherheit und Motorradschutz bei BMW.

Unter diesen Umständen wundert es kaum, warum nicht nur viele Autofahrer, sondern auch so manches Fahrerassistenzsystem im Pkw seine liebe Mühe mit den Krafträdern hat. Auch rechtlich spielt der Motorradfahrerschutz scheinbar nur eine untergeordnete Rolle. So hatte die Novelle der StVO im vergangenen Jahr vor allem die Fahrradfahrer und deren Sicherheitsbedürfnis im Blick. Das Krad schien bei der Überarbeitung des Gesetzes lediglich eine Nebenrolle für die Politik zu spielen.

Die Recherche zeigt zudem, dass Assistenz- und Sicherheitssysteme vieler Marken und Zulieferer bei der Erkennung der sogenannten "Vulnerable Road User" (gefährdete Verkehrsteilnehmer) nicht zwischen Fußgängern, Motorrad- und Fahrradfahrern unterscheiden. Die Systeme schützen aber nicht alle gleich. So erklärt beispielsweise Continental auf Nachfrage, dass manche Sicherheitssysteme für Motorradfahrer kaum einen Effekt hätten – wie etwa das Anheben der Motorhaube beim Crash. Laut dem Zulieferer sei die Aufprallgeschwindigkeit von Kradfahrern bei einem Unfall in der Regel so hoch, dass sie gar nicht auf der Fronthaube landen würden.

Unfallforschung ist wichtig

Autosicherheitssysteme und Motorräder, Sicherheitskampagne
4activeSystems
Dieser Motorrad-Dummy ermöglicht es endlich, auch Crash-Szenarien mit Krädern zu simulieren.

Das Credo aller angefragten Marken und Zulieferer lautete aber einstimmig: Man habe das Thema Motorradfahrer im Blick, viele Assistenten würden sie schon heute zuverlässig schützen. Insbesondere BMW als Auto- und Motorradhersteller gab an, dass die beiden Entwicklungsabteilungen in engem Austausch stünden. "Wir haben bei uns im Unternehmen den Vorteil, dass wir beides anbieten: Pkw und Motorräder. So ist es für uns einfacher, auch die jeweiligen Besonderheiten des anderen Fahrzeugs im Entwicklungsprozess zu berücksichtigen – egal ob es sich nun um Fahrerassistenzsysteme im Pkw oder im Motorrad handelt", so BMW-Sicherheitsexperte Zoelch.

Diesen Vorteil haben nicht alle Marken, sodass für die Entwicklung der Assistenzsysteme vor allem Daten der Unfallforschung wie von der GIDAS wichtig sind. Denn obwohl Hersteller wie BMW heute Fahrzeuge mit bis zu 22 Umfeldsensoren auf die Straße schicken, muss der Assistent wissen, worauf er achten muss und welche Gefahren im Straßenverkehr lauern, um entsprechend eingreifen zu können.

Das ist aber nur der erste Schritt, im zweiten werden alle Fahrzeuge miteinander vernetzt. Das könne Großes bewirken, heißt es seitens der Entwickler. Wenn Motorräder aktiv ihren Standort beziehungsweise die Daten ihrer Sensoren an die Autos weitergeben und auch diese das tun, würden die Assistenten effektiver und vorausschauender arbeiten. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Deshalb müssen die bereits vorhandenen Assistenzsysteme so weiterentwickelt werden, dass diese auch einen Crash mit einem Motorradfahrer verhindern.

Beispiel: Dooring-Unfälle. Obwohl der Zusammenstoß mit einer geöffneten Autotür mehr von Fahrrad- als von Motorradfahrern beklagt wird, schützt der Assistent in vielen Hyundai- und Kia-Modellen auch Kradfahrer. LEDs in den Türen warnen die Insassen beim Aussteigen, wenn sich jemand von hinten nähert, und im Ernstfall verriegelt das System sogar das Schloss. Gerade wenn es um die Motorraderkennung geht, sind die Entwickler gefordert – aber nicht unbedingt wegen des höheren Annäherungstempos. Vielmehr tun sich selbst moderne Sensoren schwer mit der frühen Erkennung schneller und schmaler Fahrzeuge.

Denn wegen der kleineren Stirnfläche erzeugen Zweiräder ein geringeres Radarecho als etwa ein Pkw. Ähnliches gilt bei Ultraschallsensoren, Laserscannern und Kameraerkennungen, die zur Umfeldwahrnehmung auch in immer mehr Modelle wie etwa die des VW-Konzerns gelangen. Deshalb müssen deren Systeme sehr sensibel ansprechen und gar nicht zwischen Motor- und Fahrrädern differenzieren. Es sind eben alles "bewegte Objekte", auf die der adaptive Tempomat reagiert.

Assistenten bald besser?

Autosicherheitssysteme und Motorräder, Sicherheitskampagne
Adobe Stock
Es ist eindeutig: An den meisten Unfällen sind Autofahrer schuld. Zu den größten Unfallursachen zählt aber anders als bei Fahrradfahrern nicht das Dooring oder das Abbiegen. An der Spitze bei den Motorradunfällen liegen Kollisionen an Kreuzungen, an denen Autofahrer die Kradfahrer sehr oft übersehen haben.

Die Geschwindigkeit der Bikes spielt für die Assistenten übrigens keine Rolle. Für mehr Sicherheit muss die Auflösung der Sensoren aber steigen, zumal immer mehr Funktionen im PKW automatisiert werden. Schon jetzt arbeiten bei manchen Marken die eingesetzten Abstands-, Kreuzungs-, Querverkehrs- und Spurwechselassistenten auf Level-2-Niveau – sind also Helfer, die den Fahrer unterstützen, aber nicht ersetzen.

Und wie geht es weiter? Natürlich streben alle Hersteller und Zulieferer eine kontinuierliche Verbesserung der Sensoren und damit der Assistenzfunktionen an. Für zukünftige Fahrzeuge sollen die Assistenzsysteme daher stärker auf die Erkennung von Motorrädern ausgelegt werden – auch um den neuen Regeln der Euro-NCAP-Tests Rechnung zu tragen. Doch erst mit funktionierenden Level-3-Systemen und der Vernetzung von Autos und Motorrädern werden Biker in Zukunft besser geschützt.

Dass das Ziel in der Weiterentwicklung der Systeme liegen muss, wird umso deutlicher, wenn man sich die Zahlen aus Audis Verkehrsunfallforschung anschaut. Zusammen mit dem Uniklinikum Regensburg wurden insgesamt 1.211 Unfälle zwischen Autos, Motorrädern, Fahrrädern und Fußgängern ausgewertet – 95 Prozent der Crashs sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Was wäre das für eine Zukunft, wenn die Technik das Fehlverhalten der Fahrer ausbügelte? Biker müssten nicht mehr für Autofahrer mitdenken.

Fazit

Es drängt sich fast schon der Eindruck auf, dass Politik und Industrie das Thema Motorradsicherheit lange ignoriert haben. Doch jetzt kommt endlich Bewegung in die Sache. Die Unfallforschung befasst sich nun stärker mit dem Thema: Erstmals werden spezielle Biker-Dummys und neue Crash-Szenarien zum besseren Schutz der Zweiradpiloten entwickelt. Zudem wird es modernen Assistenzsystemen durch bessere Sensoren bald gelingen, Motorräder fast genauso zielsicher wie Pkw zu erkennen.

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Erscheinungsdatum 03.07.2024

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