Hier am Firmensitz von Mercedes-AMG in Affalterbach herrscht gerade eine rege Bautätigkeit. Was genau passiert momentan?
Vor allem entsteht ein ziemlich großer Software-Hub mit hochmodernen Arbeitsplätzen. Gerade im Hinblick auf Driving Dynamics ist es unerlässlich, dass wir die entsprechende Software verstärkt hier in-house entwickeln. Zudem stellen wir sicher, dass wir die einzelnen Entwicklungs-Teams besser miteinander vernetzen. Im Prinzip haben wir in den oberen Geschossen Schreibtisch-Arbeitsplätze und direkt darunter die Werkstatt, sodass die Programmierer praktisch sofort sehen können, welchen Effekt ihre Arbeit auf das reale Produkt hat.
Und das alles für das erste eigenständige elektrische Modell von Mercedes-AMG, das wir als Studie GT XX sehen durften und auch in der finalen Version konkret Gestalt annimmt. Bei Ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren hatten Sie es noch nicht besonders eilig mit der Transformation, jetzt allerdings findet sie statt, obwohl E-Fahrzeuge in allen Segmenten derzeit kaum Absatz finden. Weshalb also sollte gerade ein elektrischer Mercedes-AMG einschlagen?
Als CEO so eines Unternehmens müssen Sie eng mit den Kunden in aller Welt in Kontakt sein, egal ob China, USA oder Deutschland. Dabei zeigt sich, dass wir noch flexibler sein müssen, als wir beispielsweise vor zwei Jahren prognostiziert haben. Entscheidend ist, dass wir ein überzeugendes Produkt bieten können, das performant ist, ein fantastisches Design hat und Emotionen weckt. Ich durfte gerade auf dem Testgelände in Papenburg den letzten Entwicklungsstand unseres elektrischen AMG fahren und das war derart emotional, dass ich absolut überzeugt bin, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mehr noch: Kürzlich hatten wir unsere weltweit wichtigsten Händler zu Gast, die auf unserem Testgelände in Sindelfingen unsere künftigen Produkte fahren durften. Da waren viele V8-Verbrenner-Liebhaber dabei. Und selbst die waren von unserer elektrischen Zukunft völlig begeistert.
Bei dem Auto dreht sich viel um die maximale Leistung von 1.000 kW. Dass ein E-Fahrzeug immens viel Leistung generieren kann, ist nichts Neues. Was genau hebt ihr Fahrzeug von anderen ab?
Eine Beschleunigung von null auf 100 km/h wird nicht das kaufentscheidende Kriterium sein, da gebe ich Ihnen Recht. Viele E-Fahrzeuge beschleunigen schnell. Die differenzierende Eigenschaft wird die Dauerleistung sein, die Wiederholbarkeit. Bei einem heutigen High-Performance-Verbrenner ist es genau die Reproduzierbarkeit der Beschleunigung – auch auf der Rennstrecke. Und das war für unser E-Fahrzeug die Messlatte. Wir werden ein Fahrzeug auf den Markt bringen, das gerade in puncto Dauerleistung, Wiederholbarkeit das nächste Level aufzeigen wird. Hierbei wollen wir Benchmark sein. Es muss aber auch ein emotionales Fahrzeug sein, das einerseits durch sein atemberaubendes Design überzeugt. Andererseits lieben es unsere Verbrenner-Fahrer, wenn sie von ihrem Fahrzeug eine Rückmeldung bekommen. Auch das werden sie bei unserem AMG.EA – so die interne Bezeichnung der Architektur – erleben können
Auch da gibt es ja bereits Angebote, vom künstlich generierten Motorklang bis hin zu simulierten Getrieben …
Sound ist sicher eine Dimension. Vielleicht gibt es da schon einige, die in die richtige Richtung zeigen, aber ich würde sagen, wir setzen den Nordstern. Mehr möchte ich noch nicht verraten.
Gut, dann zurück zur Dauerleistung und Reproduzierbarkeit. Heißt das, dass der GT XX ein E-Fahrzeug für Trackdays ist?
Absolut. Wenn die Infrastruktur an der Strecke vorhanden ist.
… deren Aufbau Sie ohnehin selbst in die Hand nehmen wollen, wie Sie bei unserem letzten Gespräch sagten. Wie weit sind Sie?
Hier haben wir bereits in vielen Märkten auf der Welt Lade-Initiativen gestartet, allerdings nicht alleine, sondern mit Partnern. Wir haben ja auch besondere Anforderungen, denn wie das GT-XX-Antriebskonzept andeutet, werden wir eine deutlich höhere Ladeleistung als die heute häufig möglichen 350 kW bieten.

Michael Schiebe (r.) im Gespräch mit Jens Dralle, Test- und Technik-Chef bei auto motor und sport.
Bereits ohne die Technologie des GT XX hält Mercedes-AMG ein sehr breites Spektrum an Antrieben vor. Fahren Sie das nun zurück oder müssen Sie weiterhin diese Varianz bieten und entsprechend darin investieren?
Die Rahmenbedingungen setzen der Gesetzgeber und die Kunden. Da zeigt sich, wie bereits gesagt, dass wir höchst flexibel sein müssen. Wir stellen uns so auf, dass es für den Kunden zunächst einmal unerheblich ist, wenn er einen Mercedes-AMG fahren möchte. Das heißt, er kann sich zwischen Verbrenner und EV entscheiden. Wir haben momentan nicht vor, uns innerhalb eines bestimmten Zeitraums auf eine Technologie festzulegen. Im Gegenteil, denn wir sind beispielsweise gerade dabei, einen neuen V8-Motor zu entwickeln. Da kommt ein fantastisches Aggregat, das sehr leistungsfähig und noch effizienter sein wird und die immer anspruchsvoller werdenden Regularien erfüllt. So stellen wir sicher, dass die Kunden, die diesen Antrieb lieben und die Kunden, in deren Markt es vielleicht noch keine entsprechende Ladeinfrastruktur gibt, weiterhin einen Mercedes-AMG fahren können. Gleichzeitig geben wir aber auch bei der Elektromobilität Gas, denn wir sind von den Vorteilen überzeugt. In diese Entwicklung sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter involviert, die bislang primär an Verbrennern gearbeitet haben. Und selbst die sind begeistert, was mich wiederum sehr optimistisch für die Zukunft stimmt. Unsere Kunden müssen sich also keine Sorgen machen, wir haben kein natürliches Ende für irgendeine Antriebstechnologie definiert. Wir werden beides können. Das bedeutet natürlich eine höhere Komplexität, doch damit kommen wir klar, die Voraussetzungen dafür haben wir geschaffen.
Hilft Ihnen bei der Finanzierung dieser erheblichen Investitionen die Fokussierung auf gehobene Fahrzeugsegmente?
Das auf jeden Fall. Doch wir schauen uns permanent unser Portfolio an und hinterfragen das auch, beispielsweise wenn es um die Reduzierung von Modellvarianten geht. Darüber hinaus werden viele Prozesse digitaler, wir können viel mehr virtuell entwickeln, bevor echte Prototypen auf die Teststrecken oder Straßen rollen. Gerade in den frühen Entwicklungsphasen sind Prototypen-Teile extrem teuer. Mit der Digitalisierung gelingt es uns, Zeit und Geld zu sparen. Die Simulationsergebnisse werden immer besser.
Ein Thema, das derzeit die ganze Branche beschäftigt und unter dem Schlagwort 'China Speed' subsumiert wird. Doch wie weit lässt sich die Entwicklungszeit wirklich reduzieren, wenn das Produkt am Ende in allen Bereichen perfekt sein soll?
Ein Produkt in Top-Qualität, mit Top-Reifegrad und Eigenschaften, die den Kunden überzeugen, zu entwickeln, ist und bleibt unser Anspruch. Dennoch hilft es dem Produkt, wenn während der Entwicklung auch zu einem späten Zeitpunkt Änderungen berücksichtigt werden können. Ich sehe da noch viel Potenzial. Wir stehen kurz davor, die ersten Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, bei denen schon sehr viel digital entwickelt wurde, bei den darauffolgenden Modellgenerationen nochmals mehr. Das bedeutet aber auch, dass die Teams und Organisationen anders arbeiten müssen. Die Erprobungen rund um den Globus müssen deutlich integrierter ablaufen. Da kann beispielsweise eine Fahrdynamik- nicht mehr von einer Klimaerprobung getrennt laufen. Letztlich hilft das auch bei der Ressourcenschonung. Wir fahren weniger, sammeln dabei aber deutlich mehr Daten. Bei der Auswertung dieser immer größer werdenden Datenmengen hilft uns Künstliche Intelligenz.
Inwiefern?
Wir sehen Dinge, die wir in früheren Zeiten erst im Fahrzeug in der Hardware erlebt haben, schon erheblich früher. Das betrifft sowohl Themen in unserer Arbeit, unter Umständen aber auch der unserer Lieferanten.
Nun befindet sich also ein neuer V8-Motor in der Entwicklung. Wie neu ist der wirklich?
Von den Entwicklungsumfängen her betrachtet, kann man schon von einem komplett neuen Motor sprechen. Hier stehen zwei Dinge im Fokus. Erstens: Deutlich höhere Effizienz, sowohl hinsichtlich EU7 als auch der Gesetzgebung in den USA. Zweitens: deutlich mehr Leistung. Dafür haben wir in unserer DNA ausreichend intrinsische Motivation bei unseren Entwicklern.
Mit welchem Grad der Elektrifizierung können wir rechnen?
Das ist vergleichbar mit dem, was Sie bereits von uns kennen. Hier ist ein weites Portfolio möglich. Wir sind mit unserem heutigen Angebot sehr zufrieden. Zum einen gibt es da die Performance-Hybride wie im GT 63 S E-Performance, zum anderen die Reichweiten-Hybride wie im E 53, die sich extrem großer Beliebtheit erfreuen.
Der Performance-Hybrid mit seiner nur sehr geringen E-Reichweite bleibt also weiterhin fester Bestandteil des Angebotes?
Das möchte ich nicht bestätigen. Wir halten uns alle Optionen offen. Der Ausgangspunkt ist immer das Fahrzeug. Der Antrieb muss zu dessen Konzept passen.
Sie sprachen bereits die V8-Klientel an. Es gab aber auch viele Jahre bei Mercedes-AMG Modelle mit V12-Motor. Wie halten Sie deren Fans bei Laune?
Ich sage niemals nie, aber es gibt einige Technologien, für die es keinen großen Markt mehr gibt. Unser Ziel ist es, die Bedürfnisse der großen Mehrheit unserer Kunden mit unseren Produkten zu treffen. Hier sind wir mit unserem Achtzylindermotor gut aufgestellt. Ich sehe aber auch, dass bei den Kunden eine Offenheit für gut gemachte E-Mobilität vorhanden ist. Das wird unsere Herkules-Aufgabe sein, sie letztlich zu überzeugen. Schließlich sind wir eine Marke, die emotional und durch die Tradition sehr stark mit Verbrennern verbunden ist. Aber wir haben mehrere überzeugende Produkte in der Pipeline, um die Kunden zu begeistern.
Damit sich ein neuer V8 rechnet, muss er auf Stückzahlen kommen. Heißt das, dass dieses Triebwerk in Baureihen zum Einsatz kommt, in denen aktuell kein V8 verfügbar ist?
Ja, aber ich sage nicht, in welchen. Sie fragen jetzt bestimmt gleich, ob es einen V8 wieder in der C-Klasse gibt, oder?
Genau!
Da lautet die Antwort klar: Nein.
Weshalb?
Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass wir ein sehr gutes anderes Produkt in der Pipeline haben, das die Kunden begeistern wird.
Zurück zum großen Modellprogramm. Welche Art von Kunden kauft welchen Antrieb?
Das ist in erster Linie marktspezifisch, die Gesetzgebung, gerade bei der Steuer, beeinflusst das Kaufverhalten. Dementsprechend verkaufen wir nicht die gleichen Modelle in allen Märkten gleich erfolgreich. In den Märkten, in denen Plug-in-Hybride gefördert werden, verkaufen wir die entsprechenden Fahrzeuge gut. Wer sind unsere Kunden? Es gibt nicht diesen einen. Ich hatte gerade letztens Kontakt mit einem langjährigen und überzeugten V8-Kunden. Er besitzt aktuell einen E 53 und sagt, dass dies der beste AMG für ihn überhaupt ist, auch weil er in der Stadt, in der er lebt, nur elektrisch fahren kann. Wir haben es aber auch geschafft, neue Kunden zu gewinnen. Mit den kommenden Produkten wird uns das noch besser gelingen. Ich rede da übrigens vom größten Produkt-Rollout, den es je bei Mercedes-AMG gegeben hat. Sowohl bei den Verbrennern als auch bei den Elektrofahrzeugen.
Zur Neukunden-Gewinnung hatte Mercedes und damit dann auch Mercedes-AMG einst die A-Klasse auf links gedreht – mit Erfolg. Jetzt sind die A-Klasse und einige Kompakt-Derivate Geschichte. Das, was übrigbleibt, wird höher positioniert. Warum?
Ja, mit den Kompakten waren wir sehr erfolgreich. Doch wir haben uns auch in der Vergangenheit immer mal wieder von liebgewonnenen Produkten zugunsten von neuen verabschiedet, mit denen wir noch erfolgreicher waren. Ja, wir werden unser Einstiegssegment verändern. Und auch das werden tolle Fahrzeuge.
Rein elektrische?
Lassen Sie sich überraschen. Bislang ist es uns gelungen, über die Kompaktmodelle viele junge Kunden zu gewinnen, die Teil der 'Worlds Fastest Family' geworden sind. Wir werden dieses Segment also keinesfalls aufgeben.
Analog der Strategie von Mercedes-Benz bedeutet das zwangsläufig eine preisliche Höherpositionierung, richtig?
Wir folgen natürlich der von der Konzernmutter vorgegebenen Strategie. Bei der Ausprägung der Produkte hingegen behalten wir uns weiterhin unseren ganz eigenen Weg bei, damit der Performance-Kunde das für ihn passende Produkt bekommt.
Wie oft tobt sich denn der Performance-Kunde auf der Rennstrecke aus? Wenn der GT XX dort künftig bestehen soll, müssen das auch alle anderen AMGs können?
Das Thema ist sehr wichtig, zählt zu den Kernwerten der Marke. Damit setzen wir uns immer wieder auseinander, schauen uns als Team genau an, wie unsere Kunden ihre Autos nutzen. Oder unterbreiten ihnen einen Vorschlag, wie sie es nutzen könnten. Entscheiden wir uns dafür, dass ein Produkt rennstreckentauglich sein soll, folgt darauf die Analyse, welche Kompromisse wir eingehen können und wollen. Womöglich ist dann das Thema Innenraumgeräusch nicht mehr so wichtig – zum Beispiel. Für jedes Fahrzeug legen wir die Kriterien individuell fest. Mercedes-AMG möchte auch in Zukunft auf der Rennstrecke Ausrufezeichen setzen.
Das heißt, dass die Geschichte der Black-Series-Modelle fortgeschrieben wird?
Wir werden auf jeden Fall sehr performante, rennstreckentaugliche Modelle anbieten.
… im Plural.
Genau.
Dann gehen wir mal ganz weg von der Straße. Wie ist der aktuelle Stand zum Nachfolger des im Kunden-Motorsport sehr erfolgreichen GT3?
Der Motorsport ist ebenfalls sehr markenprägend für Mercedes-AMG. Wir sind sogar davon überzeugt, dass wir hier noch erfolgreicher sein können als bislang. Das heißt, dass wir unser Kundenmotorsport-Programm weiter ausbauen und dort mehr investieren. Die Entwicklung des neuen GT3 läuft und vielleicht gibt’s auch bald dazu etwas zu sehen.
Teil des Erfolgs sind die vergleichsweise geringen Kosten, auch durch die Wartungsfreundlichkeit, nicht zuletzt wegen des offenbar unverwüstlichen Saugmotors. Wie retten Sie diese Eigenschaften in die Turbo-Ära?
Zunächst möchte ich den Turbomotor noch nicht bestätigen. Zuverlässigkeit, Performance, Fahrbarkeit und Wirtschaftlichkeit – genau darum geht es. Das alles muss auch der Nachfolger bieten.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Zwei Jahre AMG – was haben Sie genau so erwartet, wie es eingetroffen ist, was hat sie überrascht und woran sind Sie verzweifelt?
Zur Verzweiflung bringt mich regelmäßig, dass der Tag nicht ausreichend Stunden hat, um allen Themen, die mich interessieren, die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt einfach zu viele Themen, die mich jedes Mal aufs Neue begeistern. Mein Tag ist ja extrem vielfältig. In einem Termin geht es konkret um die Technik von in der Entwicklung befindlicher Modelle, im nächsten um das Design der Modelle von morgen, dann reden wir über so etwas wie die Erlebniswelt 'World of Performance', die gemeinsam mit Partnern in Saudi-Arabien entsteht, danach diskutiere ich mit den Kollegen aus dem Controlling, wie wir das alles gestemmt bekommen. Natürlich hätte ich gerne noch mehr Zeit, mit unseren Fahrzeugen zu fahren. Was mich begeistert, ist die unglaubliche Leidenschaft des Teams. Da gibt es Kollegen, die in ihrer Freizeit Prototypen für Komponenten bauen und dann bei mir für die Umsetzung kämpfen. Manche Mitarbeiter tragen sogar AMG-Tätowierungen. Ich habe schon erwartet, dass sich die Mannschaft mit der Marke und den Produkten identifiziert, doch dass es teilweise so weit geht, tatsächlich nicht.
Vita
Michael Schiebe, Jahrgang 1983, studierte Internationale Betriebswirtschaft in Stuttgart und startete seine Karriere 2007 bei Mercedes in der Produktplanung. Der begeisterte Läufer verantwortete unter anderem den deutschen Markt und leitete zuletzt das Büro von Ola Källenius. Seit dem 1. März 2023 ist er Vorsitzender der Geschäftsführung von Mercedes-AMG und verantwortet zusätzlich die "Top End Vehicle Group", zu der Mercedes-Maybach und die G GmbH zählen.