Es kommt aus der Unterwelt. Aus der tiefsten, dunkelsten, mystischsten Unterwelt, die sich Hollywood ausdenken kann. Oder irgendein verbitterter, dem Alkoholkonsum anheimgefallener Autor, der in einem windschiefen Haus in der Bretagne verzweifelt seinen Erfolg herbeischreibt. Die Wahrheit gestaltet sich womöglich viel nüchterner, zeichnet, bereits leicht unscharf, ein Bild trister Büros im scheinbar unendlich großen Volkswagen-Hauptquartier im grauen Wolfsburg, in denen es entstand.
Das, was nun hinter dir im Bugatti Mistral als Mittelmotor atmet. Schwer atmet. Pulmologen hätten eine helle Freude daran, die unterschiedlichen Facetten des in- und expiratorischen Stridors zu analysieren, die das Sechszehnzylinder-Triebwerk artikuliert. Bis zu 70.000 Liter Frischluft inhaliert es unter Volllast mit einer Lautstärke, die vermutlich der eines direkt neben dir startenden Jets entspricht. Dann, bei Gaswegnahme, zu gleichen Teilen schweres wie erleichtertes Aufstöhnen, Abblasen, zwitschern. Zwitschern? Na ja, in etwa so, als führten Rammstein die Vogelhochzeit auf, fideralala.
Doppelt hält besser
In deiner Wahrnehmung bläht sich unter Last das Acht-Liter-Aggregat auf den doppelten Umfang seiner vier Zylinderbänke auf, schrumpft im Schiebebetrieb wieder zusammen. Und es produziert unaufhörlich Leistung und Drehmoment, bis zu 1.600, PS und Nm. Das Drehmoment liegt bei 2.250/min an, die Leistung bei 7.050/min, nur wenige Umdrehungen darüber ist Schluss. Gut so, denn unter Umständen bist du dann schon in nicht einmal 2,5 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h, in unter 20 Sekunden auf 300 km/h schnell geworden.
Dabei legt sich ein bemerkenswerter Druck auf deine Brust, eine große Horde g trampelt darauf herum, das Atmen fällt merklich schwerer, der Fahrtwind rauscht über dich drüber. Das Verdeck? Eher ein Lappen, wenngleich aufwendig konstruiert, bleibt meist weg, denn es flöge bei etwa 160 km/h wie die Flugsamen einer Pusteblume nach einem kräftigen Windstoß. Unterdessen sortiert das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe mit maximaler Selbstverständlichkeit kaum spürbar die Übersetzungen durch, der immerhin knapp zwei Tonnen schwere (was ein Glück, dass die Lenkradverstellung aus Gewichtsgründen mechanisch statt elektrisch arbeitet) Zweisitzer stürmt mit stoischer Spursicherheit nach vorne.
Kein Gieren, kein Zucken im Hinterwagen, kein spürbarer Schlupf – nur erbarmungsloser Vortrieb. Das ermöglicht unter anderem das extrem steife Chassis, ähnlich unnachgiebig wie das von aktuellen LMDh-Prototypen, die unter anderem beim 24-Stunden-Rennen in Le Mans antreten. Die Krux: Im Gegensatz zu den Motorsport-Tieffliegern muss der Bugatti problemlos im Alltag funktionieren, unter anderem einen erkennbaren Federungskomfort bieten. Viel Arbeit also für die Entwickler.
Ein Sportwagen wie du und ich
Und das Ergebnis? Beachtlich. Wie der Mistral überhaupt diesseits aller Beschleunigungs-Dramatik fährt, als sei er ein Sportwagen wie du und ich. Zunächst, weil er dich bestens integriert und darüber hinaus mit dir kommuniziert; über das Chassis und den dünn aber bequem gepolsterten Sitz und über die Lenkung. Und ja, er kommt auch mit Bodenunebenheiten klar, straff, natürlich, aber engagiert. So fühlt sich der gut 4,80 Meter lange Roadster handlicher an, als es Dimensionen und Masse vermuten lassen, fährt beinahe porschig, lässt dich zudem mit einem sehr reduzierten Interieur bar jeglicher Display-Ästhetik visuell in Ruhe, konzentriert sich und dich auf das Fahrerlebnis. Und das ist immer da, immer präsent. Eben wegen der Akustik, die zugleich mahnend für das Potenzial des Bugatti agiert.

Der Sprint ist bemerkenswert, denn unter Umständen bist du schon in nicht einmal 2,5 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h und in unter 20 Sekunden auf 300 km/h.
Schließlich hält der Mistral den Geschwindigkeitsrekord für offene Fahrzeuge: 453,91 km/h. Da wird’s frisch ums Haupt. Und damit das Ganze verlässlich zum Stillstand kommt, arbeitet an der Vorderachse eine Bremsanlage mit acht Kolben und 420 mm-Scheiben, hinten sechs Kolben und 400 mm-Scheiben. Dazu bietet das Pedal einen klar definierten Druckpunkt bei kurzem, aber nicht zu kurzem Pedalweg, das auch bei niedrigem Tempo eine ruckfreie Verzögerung ermöglicht.
So betrachtet, liegt ein Großteil des Spektakulären im Unspektakulären. Ein Auto wie du und ich, Wählhebel auf D, sachte ans Gaspedal, und los geht’s. Gut, die eigens von Michelin gebackene Pilot Sport Cup 2-Spezifikation in der Dimension 285/30-20 vorn und 355/25-21 beschränkt die Alltagstauglichkeit auf trockene Straßen, was im Roadster-Kontext allerdings kein wirkliches Problem darstellt. Und führe mich nicht in Versuchung. Macht er aber, der Mistral.
Backe, backe Kohlefaser-Kuchen
Zuhören, wie sich der W16-Motor aufbläht, schnauft, prustet, seufzt. Spüren, wie dich schiere Gewalt mit dem Sitz verbackt wie Kohlefasern im Autoklaven. Darüber staunen, wie lässig du ihn dabei führst, nicht verkrampft das angenehm dimensioniert, dennoch sinnlos unten abgeflachte Lenkrad halten musst. Ab 180 km/h senkt sich das Heck um einen, die Front um 20 Millimeter ab. Oder, wenn du den Fahrmodus Autobahn wählst. Moment – einen Millimeter? Genau. Weil nur dann die Karosserie eine Trimmlage erreicht, die eine Differenz der Fahrhöhe von 20 mm zwischen Front und Heck darstellt, bei der die Anströmung des Heckdiffusor perfekt funktioniert.

Durch das sehr reduzierte Interieur lässt dich er dich mit jeglicher Display-Ästhetik visuell in Ruhe und konzentriert sich und dich auf das Fahrerlebnis.
Im Allround-Modus EB liegt die Differenz bei einem, im Top-Speed-Modus bei neun Millimetern. Adaptiv arbeitet das Fahrwerk allerdings nicht im klassischen Sinn, die einzelnen Modi sind klar definiert, eine Varianz innerhalb findet nicht statt. Der Heckflügel indes arbeitet da schon variabler, fungiert beispielsweise auch als Luftbremse, ebenfalls ab 180 km/h, generiert alleine bis zu 0,7 g Verzögerung. Und nach der Verzögerung folgt in der Regel wieder: Beschleunigung. Die vier Monoscroll-Lader des W16-Aggregates arbeiten dabei zweistufig. Erneut gilt es, zuzuhören, was sich ja eh nicht verhindern lässt, aber jetzt noch etwas genauer. Weil die Lader in der letzten Ausbaustufe dieses Motors (die nächste Bugatti-Generation bekommt einen V16-Sauger von Cosworth, eingebettet in ein Drei-E-Motoren-Hybrid-Umfeld) zweistufig arbeiten.
Immer schon der Reihe nach
Heißt: Das erste Paar bekommt ab Start die Abluft aller Zylinder als Antrieb für ihre Turbinen, um die Verdichter auf Touren zu bringen. Bereits so lässt sich das volle Drehmoment von – noch einmal – 1.600 Nm generieren. Bei 3.800/min lässt sich im dröhnenden Rauschen des Ansaugens ein leises Klicken ausmachen, das entsteht, wenn das zweite Lader-Paar beginnt, zu arbeiten. Bereits jetzt muss der Allradantrieb mit geregelter Längssperre vorne und geregelter Quersperre hinten die Gewalt sauber kanalisieren.

Der Heckflügel bleibt noch ausgefahren. Damit der Motor seine Abwärme loswird. Sobald seine Temperatur auf 45 Grad sinkt, fährt der Flügel ein. Nach einem bestimmten Algorithmus, in einigen Stufen, ganz langsam.
Ab 4.000/min schaufeln alle vier gleich groß dimensionierten Turbolader mit voller Kraft und einem relativen Ladedruck von 1,85 bar. Um eine Idee dessen zu bekommen, was da gerade passiert, lassen sich die aktuell auf der Fahrt erreichten Spitzenwerte in die kleinen Anzeigen einblenden, die sonst darstellen, was die die Klimaanlage so treibt. Sie sitzen als haptischen Großtat auf dem zierlichen, sanft geschwungenen Steg, der eine Art Mittelkonsole darstellt. Oder einfach Kunst.
Allerdings fällt es inmitten des Leistungssturms etwas schwer, die kleinen Ziffern zu, nun, entziffern. Versuchen Sie mal, bei einem Bungeesprung eine Socke zu häkeln. Wobei eben der Beschleunigungsvorgang im Bugatti Mistral erheblich kontrollierter vonstattengeht. Pardon, sich ereignet.
Das Ende ist nahe
Bis eben dieses Ereignis ein Ende finden muss, der Mistral durch elsässische Dörfer rollt, als sei er ein handelsüblicher VW Golf GTI. Mit einer Sportabgasanlage. Einer sehr voluminösen. Und viel Carbon an der Außenhaut. Sehr viel Carbon. Aber eben auch: Zahm, leicht, unkompliziert. Und gar nicht mal so exaltiert, zumindest in der Spezifikation des Entwicklungsfahrzeugs, das für die Ausfahrt zur Verfügung steht. Mit knapp 40.000 km auf der Uhr. Gut, der filigrane Elefant – klingt komisch, ist aber so – im Wählhebel wirkt etwas drüber, zählt aber zur Markenhistorie. Ebenso wie das Chateau St. Jean, vor dem der Mistral nun ausrollt.

Wie jeder Bugatti der Moderne präsentiert sich auch der Mistral als ernstzunehmender Sportwagen, nicht als Showcar. Meiner Meinung nach ein echter Traumwagen.
Der Heckflügel bleibt noch ausgefahren. Damit der Motor seine Abwärme loswird. Sobald seine Temperatur auf 45 Grad sinkt, fährt der Flügel ein. Nach einem bestimmten Algorithmus, in einigen Stufen, ganz langsam. Als Einklemmschutz. Würde dazu ein Sensor eingesetzt, könnte der unter Umständen die Funktion des Flügels als Luftbremse stören. Das wäre fatal. Schließlich stammt das, was da hinten wohnt, aus der Unterwelt. Oder einem Büro in Wolfsburg.