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Passive Sicherheit
Gibt es eine optimale Lösung?

Von Fahrerassistenzsystemen scheinbar in die Ecke gedrängt, mangelt es der passiven Sicherheitsausstattung an Aufmerksamkeit. Der Weg zum unfallfreien Fahren ist allerdings noch lang – Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Passive Sicherheit, Crashtest, Impression
Foto: Hersteller

Irgendwann scheppert es dann doch. Dann, wenn selbst der zuverlässigste Müdigkeitswarner ignoriert wurde, wenn die Geschwindigkeit für den besten Kollisionswarner zu hoch oder selbst das pfiffigste ESP nicht mehr in der Lage war, das Auto auf der Straße zu halten, knallt es. Und dann ist es gut, dass im allgemein beklatschten Auftrieb zahlloser Assistenzsysteme die Fahrzeughersteller in den letzten Jahren die passive Sicherheit nicht außer Acht ließen. Abgesehen davon: Um das Potenzial unfallvermeidender Elektronik voll auszunutzen, müsste zunächst der gesamte Fahrzeugbestand damit ausgerüstet sein.

Wann es so weit ist? Das lässt sich derzeit nicht absehen. „Nehmen Sie als Beispiel das elektronische Stabilitätsprogramm. 1995 war es erstmals verfügbar, seit November 2011 müssen alle in der EU neu zugelassenen Pkw- und Lkw-Modelle damit ausgerüstet sein. In Deutschland verfügen dennoch erst rund 70 Prozent aller Autos über diese Technik“, sagt Christoph Lauterwasser, Leiter des Allianz Zentrums für Technik. Auch wenn also Knautschzone, Airbag und Co. aktuell von der Öffentlichkeit kaum beachtet und selbst die allmonatlichen, neuesten Ergebnisse der Euro-NCAP-Crashtests bestenfalls zur Kenntnis genommen werden – die lebensrettende Bedeutung der passiven Sicherheit schwindet keinesfalls.

Selbst Volvo weiß das, obwohl die Schweden sich mit ihrer Vision 2020 am weitesten aus dem Fenster lehnen, was die Idee von unfallfreier Mobilität angeht, denn die offizielle Botschaft lautet, dass im Jahr 2020 niemand mehr in einem Volvo schwer verletzt oder getötet wird. Dabei geht es zwar um die Unfallvermeidung, doch „Sicherheit ist Sicherheit, da gibt es zahlreiche Herangehensweisen“, sagt Lotta Jakobsson, Leiterin Fahrzeugsicherheit bei Volvo. Rodolfo Schöneburg, Leiter Passive Sicherheit bei Mercedes, ergänzt: „Wir sind an dem Punkt angekommen, wo aktive und passive Sicherheit stärker zusammenwachsen.“

Ist Carbon die Lösung?

Klaus Kompass, der bei BMW die Fahrzeugsicherheit verantwortet, geht ebenfalls die Arbeit nicht aus: „Wir haben noch nie so viele Crash-Versuche durchgeführt wie im vergangenen Jahr.“ Das liegt unter anderem daran, dass die Anforderungen der einzelnen Märkte so unterschiedlich wie anspruchsvoll sind. So crashte die US-Behörde IIHS einige Autos wie Mazda 5, Nissan Juke und Mini Countryman mit 25-prozentiger Überdeckung. Zahlreiche Modelle diverser Hersteller, die nach Euro NCAP fünf Sterne erhielten, sind dabei durchgefallen. Ob das US-Prüfverfahren besser ist? Besser nicht, es ergibt sich eben aus der dortigen Unfallforschung. Euro NCAP jedenfalls plant nicht, dieses Szenario einzuführen.

Was speziell die BMW-Entwickler auf Trab hält: Sie loten eifrig die Vorteile von Carbon – dem derzeitigen Lieblingswerkstoff der Bayern – auch diesseits der i-Modelle aus. „Wir mussten viel lernen, beispielsweise dass es gut ist, wenn Carbon bei einem Crash einreißt. Bei Stahl wäre das verheerend“, berichtet Kompass. Jetzt wissen er und sein Team: Vor allem beim Seitenaufprall bietet das leichte Material dank seiner hohen Festigkeit und spröden Struktur Vorteile. Dadurch können starke Deformierungen der Karosserie verhindert werden, die eine zusätzliche Gefährdung der Insassen zur Folge hätten – und dennoch lässt sich genügend Aufprallenergie abbauen. Im Fall des elektrisch betriebenen i3 schützt diese Auslegung nicht nur die Personen im Fahrzeug, sondern auch das im wahren Wortsinn brandgefährliche Batteriepaket im Fahrzeugboden. Beim Frontaufprall absorbiert jedoch weicheres Aluminium die Wucht, da genügend Platz zur Verfügung steht.

Sicherheit vs. Gewicht

Müssen also zukünftige Modelle ebenfalls aus Carbon gebacken werden, um optimalen Schutz bei einem Seitenaufprall zu bieten? „Wir sehen durchaus das Potenzial dieses Materials, vor allem aber in einer Mischung, also Hybrid-Materialien“, erklärt Rodolfo Schöneburg. Sein Kollege von BMW pflichtet bei: „Für konventionell angetriebene Fahrzeuge könnten beispielsweise Sandwich-Konstruktionen mit einer Carboneinlage Sinn ergeben.“

Und was macht Volvo? Carbon steht bei den Schweden nicht im Mittelpunkt, aber die neue Fahrzeugarchitektur namens SPA, die in diesem Jahr mit dem XC90 debütiert, verfügt über bis zu 40 Prozent mehr hochfeste Stähle als bislang und soll so die Sicherheit, aber nicht das Gewicht erhöhen. „Tatsächlich gab es in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte bei der passiven Sicherheit, die aber oftmals mit steiferen Fahrgastzellen erreicht wurden und dazu beitrugen, das Fahrzeuggewicht in die Höhe zu treiben“, weiß Christoph Lauterwasser. Durch Materialien wie ultrahochfeste Stähle und Carbon lässt sich die Gewichtsspirale mindestens aufhalten, wenn nicht sogar umkehren.

Neben neuen Materialien beschäftigen Lotta Jakobsson von Volvo derzeit vor allem die unterschiedlichen Szenarien. Obwohl die Schweden 2000 ein aufwendiges Crash-Labor in Betrieb nahmen, lässt sich dort eben nicht alles simulieren. „Vor allem wenn das Fahrzeug von der Straße abkommt, zieht das oft schwerwiegende Verletzungsmuster bei den Insassen nach sich“, sagt Jakobsson. Um dabei besten Schutz zu gewährleisten, fehlt es derzeit an einer entsprechenden Sensor-Technologie. Die aktuelle Sensorik ist noch nicht in der Lage, sehr komplexe Situationen zu erkennen und die Rückhaltesysteme entsprechend zu aktivieren. Immerhin konnten Airbags und Gurtstraffer schon so weit modifiziert werden, dass sie bei Unfällen mit geringer Geschwindigkeit nicht mit voller Wucht arbeiten.

Optimierung der Dummys ist nötig

Jakobsson sieht zudem noch auf einem anderen Gebiet Handlungsbedarf: „Um Unfälle optimal zu erforschen, bei denen das Fahrzeug von der Straße abkommt, müsste es eine neue Generation von Dummys geben, die nicht nur Längs- und Querkräfte detektieren können.“ Doch weshalb beschäftigt Volvo dieses spezielle Unfallszenario angesichts immer höherer Einbauraten von ESP, Spurhalteassistenten und Spurverlassenswarnern so sehr? „Wir können einfach derzeit nicht sicherstellen, dass das Auto auf der Straße bleibt“, sagt die Managerin mit Bestimmtheit.

In jedem Fall spielt die korrekte Positionierung der Insassen zu den Airbags eine entscheidende Rolle. Das von Mercedes etablierte Pre-Safe-System, das bei einem drohenden Unfall die Sitze entsprechend einstellt, den Gurt vorstrafft sowie Fenster und Schiebedach schließt, nahmen mittlerweile zahlreiche andere Hersteller auf. „In der S-Klasse haben wir diese Technologie um einen Gurtstraffer, der länger zieht, ergänzt. Ich könnte mir darüber hinaus vorstellen, den Seitenairbag so zu nutzen, dass er Fahrer und Beifahrer in die optimale Position schubst. Eventuell zeigen wir bereits in der nächsten E-Klasse die nächste Pre-Safe-Evolutionsstufe“, sagt Schöneburg.

Auch Mercedes arbeitet intensiv an einer besseren Sensorik, nutzt überdies Mehrfach-Sensoren, um wirklich ganz sicherzugehen, dass die Rückhaltesysteme nur dann endgültig ausgelöst werden, wenn es das Unfallszenario tatsächlich erfordert. „Die degressive Kraftbegrenzung in Abhängigkeit von Position und Gewicht der Insassen war ein toller Schritt. Bei der Pre-Crash-Technik könnte ich mir als Nächstes zusätzlich zum elektrischen Aufroller vorstellen, dass das Gurtschloss nach unten gezogen wird. Doch das benötigt Platz“, sagt Klaus Kompass. Es gebe außerdem Überlegungen, durch Polster oder gar das seitliche Verschieben des Sitzes die Insassen optimal in Position zu bringen. Doch selbst wenn Kompass nicht glaubt, dass es jemals eine unfallfreie Mobilität gibt, sei es das Wichtigste, den Fahrer frühzeitig zu warnen, um so möglichst den Aufprall zu verhindern.

Besserer Seitenaufprallschutz

Schöneburg gibt noch einen anderen Einblick zum Thema Seitenaufprall: Er und sein Team forschen an aufblasbaren Karosserie-Elementen aus dünnem Stahl, die noch besser Unfallenergie abbauen können. Sie könnten in drei bis vier Jahren in Serie gehen. „Bis zu 50 Prozent der Belastungen für die Insassen lassen sich noch reduzieren“, sagt Schöneburg. Und Volvo präsentiert mit dem neuen XC90 im Herbst erstmals ein System, dass beim ungewollten Verlassen der Straße die passiven Sicherheitssysteme vorbereitet – ein weiterer Schritt in Richtung Vernetzung aktiver und passiver Technologien. Gut zu wissen also, dass trotz aller Fahrerassistenzsysteme ein modernes Fahrzeug noch immer gerüstet ist, wenn es denn knallt.

Wie steht Renault zur passiven Sicherheit?

Bei der Auswahl der Hersteller zu diesem Report lag der Fokus auf jenen, die Sicherheit zu ihren zentralen Markenwerten zählen (Volvo, Mercedes) oder die mit neuartigen Karosseriestrukturen in der Großserie andere Wege gehen (BMW). Natürlich stand Renault mit auf der Liste, schließlich erkannten die Franzosen als Erste das werbewirksame Potenzial eines Fünf-Sterne-Ergebnisses im Euro-NCAP-Crashtest. Seit 2001, als der Laguna erstmals das Top-Ergebnis erzielte, schien die Marke auf fünf Sterne abonniert, von wenigen Ausnahmen wie dem Kangoo oder dem Trafic abgesehen. Daher nutzte Renault diesen Vorsprung für eine pfiffige Werbekampagne. Vor allem der TV-Spot, bei dem länderspezifische kulinarische Spezialitäten wie Weißwürste und Sushi-Rollen gecrasht wurden, aber nur das Baguette ohne erhebliche Beschädigungen überlebte, bekam zu Recht viel Applaus. Und heute? Nach wochenlangem Hin und Her über den Importeur gab es von der Konzernzentrale letztendlich kein Interview oder eine Stellungnahme zum aktuellen Stand der passiven Sicherheit.

Fazit – Optimale Ergänzung

Natürlich lassen sich Fahrerassistenzsysteme besser vermarkten als passive Sicherheitstechnologien, da hochfeste Stähle oder neuartige Airbag-Aktivierungs-Algorithmen weit weniger futuristisch erscheinen. Doch erst die voranschreitende Zusammenführung hilft, Unfälle mit Todesfolge und ernsthaften Verletzungen weiter zu reduzieren. Ganz gleich allerdings, mit welcher Intensität die Hersteller die Sicherheit ihrer Fahrzeuge weiter optimieren: Das wichtigste Sicherheitssystem sitzt zwischen den Ohren des Fahrers.

1976: auto motor und sport etabliert den Crashtest

Als in den 70er-Jahren die Anzahl der Verkehrsunfälle mit Personenschaden immer weiter stieg, nahm auto motor und sport das Thema auf und führte zusammen mit renommierten Instituten Crashtests durch. Nachdem zunächst Fahrzeuge frontal gegen eine Mauer prallten, wurde bereits 1981 untersucht, welche Folgen ein Zusammenstoß von einem kleinen und einem großen Fahrzeug für die Insassen hat – im Fall des Renault 4 jedenfalls keine das Leben sichernden. Die Besatzung des Smart hingegen hätte den Crash mit der S-Klasse (1999) überlebt.

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Erscheinungsdatum 03.07.2024

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