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Kommentar zum zerlegten Model 3
Warum Tesla keine 6 Jahre Vorsprung hat

Ein in Japan zerlegtes Model 3 macht Schlagzeilen, weil es zeigt, worin Teslas Stärke liegt und womit sich die etablierten Autobauer schwertun. Aber: Wer vor allem die deutsche Automobilindustrie vorschnell abschreibt, macht einen Riesen-Fehler, findet Digital-Chefredakteur Jochen Knecht

Kommentar Vorsprung Tesla von Chefredakteur Jochen Knecht
Foto: auto-motor-und-sport.de

Die in Japan erscheinende Zeitung „Nikkei“ hat ein Tesla Model 3 zerlegt und das Puzzle von „Experten aus der Automobilindustrie“ begutachten zu lassen. Die stellen fest, was wir alle inzwischen wissen: Tesla baut richtig gute Autos und macht vor allem im Bereich der digitalen Infrastruktur und bei der Software-Entwicklung alles anders als die etablierten Autobauer. Speziell der 2019 von Tesla vorgestellte „Full Self-Driving Computer“ (FSD) beeindruckt die befragten Experten nachhaltig. „Wir bekommen sowas nicht hin!“, wird ein namenloser Toyota-Entwickler zitiert. Insgesamt, so schlussfolgert „Nikkei“, habe Tesla technisch gesehen sechs Jahre Vorsprung auf Toyota und Volkswagen.

Unsere Highlights
Die japanische Zeitung Nikkei Asian Review hat ein Tesla Model 3 zerlegt und hat das Puzzle von Experten aus der Automobilindustrie bewerten lassen.

Vorsicht mit Pauschalisierungen

Das liest sich gut, plappert sich noch viel besser nach, ist faktisch gesehen aber natürlich ausgemachter Unsinn. Warum? Weil der inhaltliche Ansatz falsch ist. Die Zuspitzung auf die antizipierten sechs Jahre Vorsprung suggeriert, dass Tesla alles richtig macht und sich der Rest der globalen Autohersteller komplett auf dem Holzweg befindet. Genau mit solchen Pauschalisierungen sollten wir aber vorsichtig sein.

Viel wichtiger ist es, sich sehr genau anzusehen, was Tesla von der restlichen Automobilindustrie unterscheidet. Dazu muss man wissen, dass Autobauer wie VW, Toyota oder Daimler seit vielen Jahren einen Teil der digitalen Systementwicklung an Zulieferer ausgelagert hat und Komplettlösungen einkauft, vom ABS über Assistenzsysteme bis hin zum Infotainment. Und jedes dieser Systeme kommt mit einem eigenen Steuergerät und der passenden Steuersoftware. Je nach Leistungsfähigkeit sind das bis zu 13 Millionen Zeilen Code, die in den 70-80 Steuergeräten verwaltet werden. Heißt: Klassische moderne Fahrzeuge haben kein zentrales Gehirn und sprechen auf Software-Ebene auch nicht die gleiche Sprache.

Komplexität kostet Zeit und Geld

Retrofit Tesla Model X
ELECTRIC DREAMS/Youtube
Der Tesla-Zentralrechner sitzt bei Model S und Model X unterm Armaturenbrett auf Höhe des Beifahrersitzes.

Sowas hat natürlich Nachteile. Komplexität, zum Beispiel. Je mehr Systeme neu dazu kommen, desto unübersichtlicher wird die Verwaltung der Steuergeräte und die Anpassung der Schnittstellen. Das kostet vor allem Zeit und damit auch Geld. Zudem ist es praktisch ausgeschlossen, Software-Updates über Internet vorzunehmen. Warum hat man das dann all die Jahre so gemacht? Weil es schlicht günstiger war, fertige Systeme in riesigen Stückzahlen einzukaufen, statt alles mühsam und teuer selbst zu entwickeln.

Tesla als Blaupause für die Autoindustrie

Tesla hat diese Welt auf den Kopf gestellt. In einem Model S, Model X, Model 3 oder Model Y sind alle Steuereinheiten in einem Gerät gebündelt, das in Sachen Software lediglich eine Sprache spricht. Das erleichtert Updates und beschleunigt Innovationsprozesse, basiert aber darauf, dass eine Firma mindestens so viele Software-Entwickler beschäftigt, wie klassische Automobilingenieure. Das hat bei Tesla von Beginn an funktioniert und scheint langsam aber sicher zur Blaupause für beinahe alle großen Autokonzerne zu werden. Alleine bei Volkswagen sollen sich bis 2025 mehr als 10.000 Experten um ein zentrales Betriebssystem für den ganzen Konzern kümmern.

Retrofit Tesla Model X
ELECTRIC DREAMS/Youtube
Alt und neu: In nur 90 Minuten kann der Hochleistungsrechner im Model X ausgetauscht werden.

Sichtbar wird dieses Betriebssystem erstmals so richtig im VW ID.3, bei dem die Entwickler gleichzeitig auch die Zahl der Steuerelemente im Fahrzeug dramatisch reduziert haben. Im ID.3 gibt es nur noch drei Rechner. Einer kümmert sich um Antrieb, einer ums Infotainment und einer um die Assistenten.

Rechenleistung kann man kaufen

Also nach wie vor ein Vorsprung für Tesla bei der Rechner-Hardware? Eher nicht. Der entscheidende Unterschied ist nicht, ob ein oder drei Rechner, sondern die gemeinsame Software, die die Hardware erst aufschlaut. Außerdem kann, wer will, kann sich nämlich bereits heute zum Beispiel bei NVIDIA einen Rechner ins Auto holen, der doppelt so schnell ist, wie der FSD von Tesla. Die extrem auf Sicherheit bedachten europäischen Entwickler sind allerdings nur wenig begeistert davon, alle sicherheitsrelevanten Systeme in einen Zentralrechner zu integrieren – auch wenn der wie bei Tesla aus zwei unabhängig voneinander agierenden Chips besteht.

Tesla Model 3, Exterieur
Tyson Jopson
Tesla-Bestseller: Mit dem Model 3 will Tesla den Sprung in die Massenproduktion schaffen.

Es geht eigentlich nur um Software

Der eigentliche Wert, den Tesla geschaffen hat, ist also die Software. Das haben sie bei Volkswagen beispielsweise genauso erkannt, wie bei vielen anderen Autoherstellern auch und investieren Milliarden, um verlorenen Boden gut zu machen. Bis das alles rund läuft, wird es noch ein bisschen dauern. 6 Jahre? Ganz sicher nicht. Zumal die globalen Autobauer den Vorteil haben, parallel mit klassischen Autos noch das Geld zu verdienen, das für die Entwicklung neuer Technologien gebraucht wird. Tesla ist da noch ein ganzes Stück weit entfernt.

Für 2019 stehen 862 Millionen Dollar Verlust in den Büchern. Das war alles schon viel schlimmer. Und deshalb ist der Tesla-Börsenkurs zwischenzeitlich auf 140 Milliarden Dollar gestiegen. Mit Realismus hat das schon lange nichts mehr zu tun.

Fazit

Ich bin und bleibe zutiefst beeindruckt davon, wie konsequent Elon Musk Tesla von Beginn an aufgestellt hat. Nicht als Autobauer. Nicht als Software-Konzern. Sondern als integrierter digitaler Mobilitätsanbieter. Alles aus einer Hand. Immer elektrisch. Immer volles Risiko. Das wird diese Firma hoffentlich noch weit bringen. Weil es der Branche gut tut. Die Konkurrenz zerstören wird es aber vermutlich nicht.

Wie weit voraus ist Tesla? Was glauben Sie? Schreiben Sie mir, Sie erreichen mich unter jknecht@motorpresse.de!

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