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BMW-Frontassist-Demo
Sicherheit in letzter Sekunde

Sie greifen selten, doch dann umso härter ein. Notbremssysteme sind seit Juli 2022 in der EU in allen Neufahrzeugen verpflichtend. Ein Blick hinter die Kulissen der Assistenzsystementwicklung.

BMW Frontassist Demo
Foto: BMW

Es gibt Fahrassistenten, mit denen man häufig in Kontakt kommt und solche, die nur sehr selten in Erscheinung treten. So zupft ein Spurhalteassistent dir deutlich öfter die Linie auf der Autobahn zurecht, als dass ein Notbremsassistent eine Vollbremsung einleitet, weil eine Person vor dem Fahrzeug auf die Straße läuft. Dementsprechend lässt sich die Funktion eines Spurhalters recht gut auf öffentlicher Straße erfahren und bewerten. Bei Notbremssystemen braucht es hingegen abgesperrtes Gelände, schließlich will man ja schlimmstenfalls einen Dummy auf die Hörner nehmen, nicht jedoch den netten Nachbarn von gegenüber. Praktischerweise hat BMW in der Nähe des fränkischen Hofs so ein Gelände, auf dem heute die Systeme zeigen dürfen, was sie können. Schließlich sollen laut einer Allianz-Studie Notbremsassistenten rund die Hälfte aller möglichen Auffahrunfälle verhindern können. Dafür stehen ein BMW X1, ein 2er Active Tourer und ein elektrischer iX bereit. X1 und 2er sind mit dem optionalen Driving Assistant Professional ausgerüstet, der beim iX M60 serienmäßig an Bord ist. Er ergänzt den serienmäßigen, kamerabasierten Notbremsassistenten unter anderem um ein Radar und um die Fähigkeit, Querverkehr zu erkennen.

Rücksicht hat Vorfahrt

Der engineerte Spätbremser

So viel zur Theorie. Auf der eigens neben der Start-Landebahn des Flughafens Hof-Plauen errichteten Testspur, stehen bereits die Dummys bereit, auf die die Assistenzsysteme reagieren sollen. Fahrrad, Motorrad, Roller, ein Kind und natürlich ein symbolisiertes Auto, genannt Guided Soft Target (GST), können genutzt werden. Till Kost ist für die Integration der Front-Assist-Systeme bei BMW zuständig und begleitet alle Fahrversuche oder auch "Szenarien", wie es im Entwicklersprech heißt. Szenario eins ist der Klassiker: das Auffahren auf ein stehendes Hindernis. Die bekannte Sicherheitsgesellschaft Euro-NCAP schreibt in ihren Anforderungen vor, dass das Fahrzeug in einer solchen Situation aus 60 km/h zum Stillstand kommen muss. "Wir wollen die Euro-NCAP-Vorgaben übertreffen und maximale Sicherheit rausholen", erklärt Till Kost. Als erstes wird der Fahrrad-Dummy mit rund 40 km/h angepeilt. Es erfordert viel Überwindung den Fuß bis knapp vor dem Hindernis auf dem Gas zu lassen. Der Kollisionswarner befindet sich in seiner mittleren Stufe. Die Einstellung im Assistenzmenü beeinflusst den Zeitpunkt der Warnung, die das Fahrzeug dem Fahrer oder der Fahrerin bei einer drohenden Kollision ausspielt. Spätestens eine Sekunde vor dem Beginn der Bremsung durch das System muss die Warnung ausgespielt werden – so schreibt es der Gesetzgeber vor. Der Zeitpunkt der Bremsung bleibt aber immer der gleiche. Zuerst leuchtet im Tachodisplay und im Head-up-Display eine Warnmeldung rot auf, kurz danach folgt ein durchdringender Piepton. So langsam ziehen sich die inneren Organe zusammen, denn der X1 rollt und rollt und roooooolllt… Aber der X1 bremst. Hart, pointiert und kommt ein paar Zentimeter vor dem GST zum Stehen.

100-prozentige Sicherheit unmöglich

Dieses Szenario lässt sich nun mit verschiedenen Dummys in verschiedenen Positionen variieren. Ob Fahrrad, Motorrad oder Person, ob in Fahrtrichtung oder quer auf der Fahrbahn: Das System hält den BMW stabil an. Das System funktioniert aber auch bei fahrenden Objekten. Grundsätzlich gilt die Geschwindigkeitsdifferenz von rund 80 km/h, die das System sicher abbauen kann. Dabei ist es egal, ob man den Dummy auf seiner autonomen Plattform 80 km/h fahren lässt und mit 160 km/h auffährt, mit 100 km/h auf das 20 km/h schnelles Ziel, oder aus 80 km/h auf ein stehendes Objekt zufährt. Das Fahrzeug kommt entweder zum Stillstand oder passt sich dem vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer an. Tatsächlich erkennt das Ensemble aus Radar und Kameras bewegliche Ziele deutlich leichter, da sie sich stärker von ihrer Umgebung durch ihre Bewegung abheben. Dementsprechend fallen die Bremsungen auf bewegliche Ziele deutlich sanfter aus, da sie früher eingeleitet werden können. Obwohl bis zu 5.000 Szenarien getestet werden, ist eine 100-prozentige Sicherheit unmöglich zu gewährleisten. Das zeigt sich auch wenig später bei einem weiteren Fahrversuch auf einen stehenden Fahrraddummy. Denn dabei wird es dem Autor dieser Zeilen zu gruselig. Ein kurzer Tapser auf die Bremse just in dem Moment als gerade die Bremsung eingeleitet werden soll, entbindet das System von seinen Aufgaben. Die eigene Bremsung ist in der ersten Sekunde entscheidend zu schwach und der X1 rauscht in den Dummy hinein. Der ist zum Glück aus Schaumstoff und richtet keinen bleibenden Schaden an. Was ist passiert? Fahrassistenzsysteme können im Hinblick auf minimale Intrusion entwickelt werden, erklärt Kost. So ist es erklärtes Entwicklungsziel, den "aktiven Fahrer" mit den Assistenzsystemen zu unterstützen, aber nicht zu bevormunden. Erkennt das System also, dass der Fahrer selbst beherzt eingreift, zieht es den elektronischen Eingriff zurück. Im vorigen Fall war aber wohl das Timing sehr unglücklich, da der manuelle Eingriff und der Assistenzeingriff quasi zeitgleich erfolgten.

Das beschreibt auch die große Herausforderung in der Entwicklung: das korrekte Trennen von falschen und richtigen Auslösungen. Eine falsche Warnung mit Piepton ist verschmerzbar, eine im falschen Moment eingeleitete Bremsung jedoch im schlimmsten Fall ebenso fatal wie eine ausgebliebene Auslösung. Trotzdem ist man bei BMW von seiner Entwicklungsarbeit überzeugt und scheut sich nicht, die Versuche statt mit einem weichen Dummy auch mit einem echten, geparkten Motorrad durchzuführen. Aber die 279 kg schwere BMW R 1250 RT steht auch nach den Fahrversuchen noch auf dem Ständer und nicht auf der Motorhaube des X1.

Soll anstelle der Vollbremsung ausgewichen werden, unterstützt das Fahrzeug ebenfalls. Wird der Lenkvorgang zackig genug vor dem Hindernis initiiert, wird die Bremse gelöst und die Lenkung für ein sauberes Ausweichmanöver geführt. Das verhindert das Verreißen und sorgt in der anderen Spur sofort für Spurstabilität, was dem hektischen Ausweichvorgang eine beeindruckende Souveränität verleiht.

Gefährliches Linksabbiegen

Noch gefährlicher als Auffahrunfälle sind Kollisionen beim Linksabbiegen. Besonders mit Motorrädern enden sie von allen Unfallszenarien am häufigsten mit schweren Verletzungen oder Todesfolge. Front-Assist-Systeme erkennen bis zu 100 km/h schnellen Gegenverkehr und können auch hier riskante Abbiegevorgänge unterbinden. Zunächst wird der Versuch mit einem Auto- und einem Motorrad-GST gefahren, bevor Till Kost ans Steuer darf und mit seinem Kollegen Sebastian Kaps den Versuch mit Realfahrzeugen nachfährt. Von der Rückbank aus sieht man nun mit reichlich Muffensausen, wie sich der 2er mit rund 80 km/h nähert. Kost blinkt, lenkt ein, hält drauf, der X1 bremst schnell und kräftig ab.

Eine besondere Herausforderung für die Systeme ist querender Verkehr. Hier hat das System nämlich weniger Zeit, den anderen Verkehrsteilnehmer sowie die Situation zu identifizieren. Sei es nun ein Kind, dass hinter einem geparkten Auto hervorläuft oder ein Rotlichtsünder, der die Kreuzung quert. Für diese Versuche kann ein Kinderdummy auf einer Vorrichtung hinter einem parkenden Auto hervorlaufen und das autonom fahrende GST wieder auf eine feste Geschwindigkeit und Fahrroute programmiert werden. Im Versuchsfahrzeug wird im 90-Grad-Winkel zum querenden Dummy gefahren. Egal ob man die Hindernisse auf einen frühen oder späten Berührungspunkt mit dem eigenen Fahrzeug programmiert: Der BMW iX erkennt sie und leitet sofort und vehement die Bremsung bis zum Stillstand ein.

Das Ganze funktioniert auch rückwärts für das Ausparken aus engen Parklücken. Auch hier bleibt dem System wenig Zeit, die Situation zu lesen, was jedoch im Versuch mit querenden Dummys kein Problem darstellt. Zum Schluss folgte noch ein Szenario, das sich exklusiv mit dem iX testen lässt: Hier gibt es nämlich nicht nur eine Ausstiegswarnung, die vor dem Öffnen der Fahrertür bei sich von hintem nähernden Verkehr optisch und akustisch warnt, sondern der iX kann auch das Türöffnen gänzlich verhindern. Im Gegensatz zu X1 und 2er verfügt er über elektrische Türöffner – also einen Knopf statt einem Hebel – die einen Eingriff des Systems erlauben. Und so rollt von hinten der 2er Active Tourer an, in dessen Weg nun die Tür geöffnet werden soll. Das geht zwar auch wieder gehörig gegen den eigenen Instinkt, aber der iX verhindert zuverlässig einen teuren Blechschaden.

Datenlastige Entwicklung

Wie aufwendig die Entwicklung dieser Systeme ist, zeigt ein Blick in den Kofferraum des 2ers. Im Gegensatz zu iX und X1 ist er mit Messtechnik ausgerüstet. Die produziert in einem einzelnen Fahrversuch, wie wir ihn am Testtag rund zwanzigmal durchgeführt haben, rund 40 Gigabyte Daten – in etwa 40 Sekunden. Sie liefern die Grundlage für die so wichtige Feinabstimmung, die die unterschiedlichen Systeme am Ende alltagstauglich und im besten Fall nicht nur sicher, sondern auch unauffällig machen. Denn schlussendlich macht ein Notbremssystem jede Fahrt sicherer. Denn laut Statistischem Bundesamt gehen 95 % aller Unfälle auf menschliches Versagen zurück und nicht auf das vermeintlich nerviger Assistenzsysteme.

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