Im Frühjahr 2000 bin ich schon vier Jahre aus dem Haus, das da auch nicht mehr unseres ist. Weil alles seine Zeit hat. Und doch endet etwas Grundlegendes, als mein Vater zum letzten Mal in den blauen Passat 1.8 CL steigt. An der Seitenscheibe klebt noch der Sticker "Unterwegs im Namen des Herrn", den mein Bruder und ich heimlich aufs Auto pappten. Ansonsten ist der VW gewaschen und entrümpelt, um ihn beim Autohändler in Zahlung zu geben. Seltsam, ihn wegzugeben – und zum ersten Mal nach 26 Jahren keinen Passat mehr zu haben.
Die ersten drei Jahre seien die prägendsten für das ganze Leben, sagen uns die Wissenschaftler, und dass die Bindungen, die in dieser Zeit entstehen, ein ganzes Leben lang nachwirken. Und dass wir uns später an kein Erlebnis, das sie schuf, mehr erinnern können. Tatsächlich fällt es schwer, sich an die erste Erinnerung seines Leben zu erinnern. Geschichten und Fotoalben, Orte und Reisen, Spielsachen und Wohnungen, Feste und Krankheiten chronologisieren die Erinnerung an die eigene Familiengeschichte – aber eben gerade auch Autos. Bei uns sind das sieben Passat, vom B1 bis zum B4.
26 Jahre lang alternativlos
Ich bin erst ab dem dritten dabei. Schon zur Geburt meines großen Bruders hatten meine Eltern 1974 ihre zwei Käfer gegen einen VW Passat getauscht, einen frühen 1300er mit vier Türen, aber der kleinen Heckklappe – ein Fehlkauf, weil der Kinderwagen kaum durch die knappe Luke passt. 1975 geben sie ihn für einen Variant L in Zahlung, den man ihnen am Gründonnerstag 1977 zu Schrott fährt. Überhaupt gehen uns erstaunlich viele Passat durch unverschuldete Unfälle verloren – drei von sieben.
Auf die Schnelle gibt es keinen anderen neuen Variant. Da kaufen sie eben einen santosgrünen Passat 1.3 L Schrägheck. Jahre später frage ich meinen Vater, warum er nicht einfach ein ganz anderes Auto gekauft habe: Peugeot 504 Break, Renault 16, Ford Granada Turnier oder Volvo 240 Kombi. Da schaut er mich an, als hätte ich außerhalb eines Denkmodells argumentiert. Der Passat war für ihn 26 Jahre lang alternativlos.
Das liegt zum einen an der alten Käfer-Folklore, die damals noch immer besagt, jeder Dorfschmied könne einen VW reparieren – wobei es schon 1977 deutlich schwerer gewesen sein dürfte, einen Dorfschmied aufzutreiben als einen VW-Händler. Und die Sorge vor weiten Strecken zur Werkstatt und hohen Reparaturrechnungen hält meine Eltern vom Kauf eines Renault ab, obwohl ihnen so ein pragmatischer, günstiger R4 ganz gut gefällt. Der andere Grund für den VW liegt darin, dass ein junger Pfarrer mit R4 in so einem rechtschaffenen Schwabendörflein etwas revoluzzerisch ausgesehen hätte. Hätte man erklären und richtigstellen müssen. Einen Passat muss man nie rechtfertigen, er ist modern, nicht modisch, nicht billig, aber auch nie protzig, nie auffällig, immer solide. Im Kindergarten muss ich oft erklären, dass das große Pfarrhaus uns ebenso wenig gehört wie das Opfer vom Gottesdienst. Aber nie muss ich mich für den Passat verteidigen.
Und dann kommt der BL-ER 740
Familienautos haben es schwer, weil sie immer da sind und weil die Autos aus Kinderträumen sich nie mit der Realität einlassen müssen. Ich schleppe meinem Vater Prospekte von Volvo 740, Citroën BX und Alfa 75 an, dränge ihn dazu, mit mir einen gebrauchten Matra Rancho zu besuchen. Und jammere: Elkes Mutter fährt Scirocco, die Eltern der Nachbarskinder kaufen einen Ford Capri. Papa hört sich all das geduldig an, meint dann: Aber sähe das nicht etwas pietätlos aus, als Pfarrer mit einem tiefergelegten Capri zu einer Beerdigung zu fahren? Auch die meisten Kollegen fahren VW, nur der Dekan Audi. Es bleibt beim Passat.
Die erste Erinnerung an einen unserer Passat: Ich weiß nicht, ob das wirklich so war oder ich mir die Erinnerung nur aus Prospekten und Geschichten zusammengeklaubt habe. Aber vielleicht gab es sie ja doch, diese Fahrt durch den Wald. Ich wie immer hinten links im ewig schwitzigen Römer-Kindersitz, festgepresst von dem orangen Fangtisch. Den Blick nach vorn, auf die Straße, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelt, deren Stämme und Äste so gar keine Ähnlichkeit haben mit der Holzfurnierattrappe, die das Cockpit tapeziert. Ich weiß, dass der erste Passat, an den ich mich zu erinnern meine, malagarot ist (Farbcode H5H5) mit Polster Gazelle (Code - BS). Ich weiß, dass es ein 1.3 L mit 55 PS ist und ihn Papa im Frühjahr 1980 als Auslaufmodell beim Autohaus Kronenbitter in Horb kauft. Und dass 1983 auf der Dienstfahrt zu einer Beerdigung ein Laster mit dem Passat zusammenstößt. Der Passat schleppt sich noch zum Gottesdienst und wieder zurück, verendet daheim mit geplatztem Kühler.
Da ist es November 1983. Und wir brauchen schnell ein neues Auto. Ganz kurz überlegt mein Vater an dem blauen Audi 80 herum. Aber da lassen sich die Rücksitze nicht umklappen. Und wie soll er dann die große Leinwand vom Gemeindehaus in die Kirche transportieren und die Aufsteller fürs Gemeindefest? Und was denkt der Dekan? Also wieder ein Passat, wieder Schrägheck, Variant ist zu teuer. Dafür der stärkere 1600er mit 75 PS. Für Reserven beim Überholen.
Von null auf 223.000
Ein CL, marsrot, Stoffsitzbezüge in Streifen-Gewirke Saiga, Mono-Radio, keine weiteren Extras. 19.654 Mark kostet er, abzüglich der zehn Prozent Rabatt, den die Landeskirche Württemberg mit VW ausgehandelt hat. Alle vier Jahre gibt es dafür einen sogenannten Abrufschein, mit dem die Pfarrer ein Auto für sich und die Arbeit bestellen dürfen.
Nach der Liste, die ich führe, bin ich in meinem Leben bisher mit 1.659 Autos gefahren, besaß selbst 28. Aber in keinem Auto war ich mehr unterwegs als in dem Passat 1.6 CL mit dem amtlichen Kennzeichen BL-ER 740. Er ist das Auto meiner Kindheit, bleibt siebeneinhalb Jahre, bringt uns an die Nordsee und auf das Stilfser Joch, im Frühsommer 1989 noch in die DDR, wo man ihn uns sofort abkaufen möchte. In all den Jahren bleibt er nur einmal liegen, 1990 mit einem Lichtmaschinenschaden. Doch der Rost knabbert nun am hinteren Radlauf, und seit der 200.000-km-Marke werden die Werkstattkosten dann doch zu hoch.
Ein Passat B3 zum Geburtstag
Zu meinem 13. Geburtstag packen mich meine Eltern in den B2 und fahren los. Erst als wir beim Autohaus Schuler in Horgen stoppen, verstehe ich, was hier das Geburtstagsgeschenk ist: Wir bestellen ein neues Auto. Den B3 gibt es nur noch als Stufenheck und Variant, also wird es der Kombi. Der 90-PS-Benziner, weil da die Servolenkung Serie ist, als Extras Zentralverriegelung (625 DM), Radio Beta mit Stabantenne (645 DM) und, weil ich sie so dringend empfehle, die recht nutzlose Dachreling für 465 Mark. Erst im Mai kommt der Passat, aber dieser Komfort: Servolenkung und Zentralverriegelung, dazu der enorme Fond. Haben wir es da nicht ein wenig übertrieben? Doch dieser B3 verlangt viel Toleranz: Die Seilzugschaltung hakt, die Schließanlage muss ersetzt werden, die Verarbeitung ist leger, einmal bricht der Blinkerhebel ab. Deswegen am Passat zweifeln? Aber nein!
Im Juli 1994 schätzt ein Porsche-Fahrer ein Überholmanöver falsch ein und drängt meine Eltern in den Graben. Ich stehe morgens auf, tapse in die Küche, und im Hof steht ein Ford Sierra Turnier, ein Mietwagen. Als wir den zerstörten Passat sehen, wird uns klar, wie viel Glück wir hatten, dass nur der Passat nicht zurückkommt. Da soll nun nicht an Sicherheit gespart werden.
Der Passat B4 hat Airbags und ABS serienmäßig, das kostet beim eigentlich favorisierten, aber nicht sofort lieferbaren Golf Variant 3.000 Mark extra. Also Passat Nummer sieben, wieder 90 PS, diesmal ein GL. Nur ist er mit den Jahren doch zu groß für zwei, weil die Kinder nicht mehr bei den Eltern wohnen, sondern nur noch zu Besuch kommen. Als wir den Passat abgeben, enden für uns mehr als 26 Jahre mit einem Modell. Denn selbst die wunderbarste Kindheit ist wohl endgültig vorbei, wenn deine Eltern kein Familienauto mehr brauchen.