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100 Jahre Daimler-Standort Sindelfingen
Besuch zum Standort-Jubiläum

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Zum 100. Geburtstag des Daimler-Standortes Sindelfingen mogelt sich eine 73er Mercedes S-Klasse in den heutigen Tagesablauf.

Mercedes 230 SE, Daimler-Standort Sindelfingen
Foto: Achim Hartmann

Knallhart, trocken und schwäbisch zerplatzt der Kommentar auf dem ikonengoldenen Metallic-Lack des Mercedes 280 SE: "Für solche Spaltmaße würden sie dich heute ganz schön in den Senkel stellen", da ist sich Günther Braun sicher. Er arbeitet im Karosserie-Rohbau der S-Klasse zusammen mit Meister-Kollege Karl-Josef Teufel – und der wiederum brachte schon die Generation W116 der Luxuslimousine auf die Räder. Jene, zu der auch der 280 SE zählt. "Da steckte noch viel Handarbeit drin", erzählt Teufel.

"Die Schweißnähte haben wir von Hand aufgebracht." Eigens für den W116 ging im September 1972 aber auch die erste vollautomatische Roboter-Transferstraße in Betrieb. Ganze zwölf dieser Maschinen kümmerten sich um die Seitenwände der S-Klasse. Mehr Roboter gab es damals im gesamten Werk nicht. Heute sind es 5150.

Das mag sicher eine bedeutende Episode in der Geschichte des Standortes Sindelfingen sein, aber eben auch nur eine Episode. So umfangreich fällt die Zeitspanne der Existenz des Werks aus – 100 Jahre, meine Güte, was passiert da nicht alles!

100 Jahre Daimler in Sindelfingen: Narben auf der Geschichte

Allein zwei furchtbare Weltkriege hinterlassen Narben auf der Geschichte, dazu noch eine Weltwirtschaftskrise, gegen die das aktuelle Griechenland-Debakel wie eine lustige Geschichte aus dem Knax-Heftchen der Sparkasse wirkt. Dann dreht jemand den großen Ölhahn zu, andere verwechseln ihre tägliche Arbeit in der Bank mit einer Partie Black Jack und verzocken gleich zig Milliarden, Dollar oder Euro, das interessiert auch schon nicht mehr. Dazu kommen diverse Dispute zwischen dem Daimler-Management und der Belegschaft. Es dreht sich um Produktionskürzungen und -verlagerungen, Streiks bleiben oft nicht aus.

Alles das hindert die Macher am Standort jedoch bestenfalls kurzzeitig daran, ihren Hauptaufgaben nachzukommen: Autos zu entwickeln und zu bauen. Exakt 367.313 Pkw verließen 2014 die Hallen. Ja, es waren schon mal deutlich über 400.000, doch dazu später mehr. Auf einer Fläche von über 50 Hektar kümmern sich aktuell rund 37.000 Mitarbeiter darum. Und diejenigen von ihnen, die der alten S-Klasse begegnen, lässt sie nicht kalt. Die erfahrenen Meister Teufel und Braun nicht, junge Auszubildende ebenso wenig und auch Axel Hediger nicht.

Als Leiter Montage Kleinserie verantwortet er immerhin die Produktion des AMG GT, jenes hinterradgetriebenen Wüterichs, der derzeit die Sportwagenszene aufmischt. "Ähnlich wie damals bei der S-Klasse kommen wir heute auch fast ganz ohne Roboter aus", sagt Hediger, der bereits den SLS durch dessen Lebenszyklus begleitete. "Obwohl der GT weniger als der SLS die Sammler anspricht, sondern vielmehr echte Sportwagennutzer und in einem niedrigeren Preissegment um Käufer kämpft, legen wir viel Wert auf Handarbeit", erklärt der Manager.

Mercedes AMG GT Produktion fernab der Großserie

Im zweiten Stock des Gebäudes 3/10 entsteht der Zweisitzer – auf einer Fläche, die bei der Produktion der E-Klasse alleine für die „Hochzeit“, also das Zusammenführen von Karosserie und Antrieb benötigt wird. Im Gegensatz zu den Großserienmodellen müssen die Arbeiter bis zu zehnmal mehr Aufgaben pro Station erfüllen, extra qualifiziert durch eine aufwendigere Ausbildung.

Stress? Kommt dennoch keiner auf, da das Band nicht permanent weiterläuft, sondern an den Stationen steht. Mehr noch: Um Platz zu sparen, wird die Karosserie für die Hochzeit sogar vom Band genommen. Und genau da hakt es gerade, denn dem Kran ist derzeit unwohl. Techniker arbeiten mit angemessener Hektik an einer Lösung. Der geringe Grad der Automatisierung ermöglicht eine hohe Flexibilität. „Beim SLS konnten wir problemlos die Black-Series-Variante auf derselben Linie fertigen, obwohl sie sich stark von der Basis unterschied“, erklärt Hediger. Soso. Welche Varianten er denn vom GT zu produzieren gedenke? „Kein Kommentar“ – natürlich.

Ach ja, ein Roboter surrt dann doch in der Halle, er trägt den Klebstoff für die Scheiben und das optionale Glas- oder Carbondach auf. Hediger kommt mit seiner Antwort der Frage zuvor: "Das bekommt die Maschine einfach viel schneller und präziser hin." Carbon? Zu Lebzeiten des W116 ein Werkstoff aus dem Fabelbuch. Glas, ja, davon trägt die Limousine reichlich, ungetönt allerdings, weil sich der Erstbesitzer den Aufpreis von 276,85 Mark sparte.

Er sparte überhaupt an vielem, gönnte sich einzig den 185 PS starken Einspritzmotor, dazu die Vierstufenautomatik, den rechten Außenspiegel und bestellte den Farbcode 416 – Ikonengold metallic, für diese Baureihe eigentlich alternativlos. Nur Ikonengold gelingt es, den verchromten Doppelstoßstangen-Überfluss des 116ers würdevoll zu vervollständigen.

So bleibt die Limousine der einzige Farbtupfer in und zwischen den tristen Hallen, deren Tristesse auch nicht die Gitterboxen durchdringen, deren Grün und Orange zu stark verblassen. Selbst der 2003 eingeweihten, 26 Meter hohen, verglasten und überdachten Brücke zwischen den Gebäuden 7/4 und 8 kommt bestenfalls die Rolle einer architektonischen Stilblüte zu, obwohl in ihr ausschließlich Karossen der edlen S-Klasse vom Rohbau zur Lackierei schleichen. Dort sprühen Roboter rund 25,5 Kilogramm Material von der Grundierung bis zum Klarlack auf, nach dem Trocknen bleiben etwa 15,3 Kilogramm übrig.

Center of Excellence für Individualwünsche solventer Kunden

Der Mut zur Farbe scheint seit den 70ern ebenfalls stark eingetrocknet. Es wirkt fast ein bisschen wie in den 30er-Jahren: Schwarz dominiert, unterbrochen von fadem Leasing-Silber und Weiß. Im Center of Excellence könnte es bunter zugehen, denn dort realisieren Spezialisten mit besonders solventen Kunden deren ausgefallenste Wünsche. Ursprünglich entstand der repräsentative Bau an der wenig repräsentativen Käsbrünnlestraße für die Luxusmarke Maybach, die gerade ihre dritte Chance bekommt.

Und heute möchte man dort unter sich bleiben. Macht nichts. Gelassen huscht der 280 SE mit seinem sonor-rauchig klingenden Reihensechszylinder-Triebwerk durch das verzweigte Wegenetz, begegnet diversen Unimogs und Actros, die als sogenannte Lokomotiven mehrere Anhänger zugleich über das Gelände schleppen.

Dann schiebt die Limousine ihren mächtigen Kühlergrill an einer Reihe S-Klasse Coupés vorbei, die in der Sonne vor einer Halle dösen, ohne Nummernschild, warum auch immer. In ein paar Wochen kommt noch das Cabrio hinzu, irgendwo ist ja immer Geld auf der Welt. Es wird die Jahresproduktion kaum auf ein neues Rekordhoch schrauben, was vom Management durchaus so gewollt ist. Sindelfingen soll als Produktionsstandort für die Ober- und Luxusklasse in eine renditeträchtige Zukunft geführt werden, angereichert um die Forschungs- und Entwicklungskompetenz des Konzerns. Die C-Klasse rollt hier nur noch aus dem Tor des Kundencenters nach der Übergabe an die Käufer, aber nicht mehr vom Band. 2014 war damit Schluss. Die E-Klasse ist geblieben, daran ändert auch der bevorstehende Modellwechsel nichts. Wohl aber an dem Plan, mit dem 280 SE deren Fertigung zu besuchen – alles ganz furchtbar geheim.

Qualitätskontrolle? Kein Problem für unseren W116

Also sorgt ein weiterer Gasstoß dafür, dass sich die ikonengoldene Haube bedächtig anhebt. Die Limousine treibt über das riesige Areal, an den Sperrzäunen vorbei, zu den Entwicklungsabteilungen, sieht pausierende Arbeiter vor den Gebäuden erzählen, gestikulieren, essen. Wenn nicht die Vesperbox von "dahoim" für Energiezufuhr sorgt, dann eines der 11 betriebseigenen Restaurants oder einer der 16 Kioske. Rund 11.000 Essen pro Tag halten die Motivation der Angestellten hoch, vorzugsweise schwäbische Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle – kulinarischer Lokalpatriotismus pur.

In der Pause schmuggelt sich der W116 auf das Band der Endkontrolle, zwischen seine Ur-ur-ur-Enkel, mal mit kurzem, mal mit langem Radstand, mal in Maybach-Ausprägung. Ganz vorne: eine weiße Limousine. Farbe, S550-Schriftzug und Positionsleuchten offenbaren dessen Bestimmungsmarkt: USA. Der Export spült Geld in die Kassen, China saugt gerade den Maybach-Vorrat leer.

Der W116 schafft mühelos die strenge Qualitätskontrolle – einzig und allein aufgrund der ihm zufliegenden Sympathien, doch wen stört’s. Ein paar S-Klassen warten auf kleine Nachbesserungen, während die für gut befundenen Modelle praktisch im Minutentakt aus der Halle schießen. Davor kurz hupen, denn auch das muss funktionieren. Noch einmal fühlt sich der 116er als Neuwagen, obwohl bekanntermaßen nichts so ist, wie es einmal war, in einer riesigen Industrieanlage wie dieser schon gleich gar nicht. Orte zu finden, die noch so aussehen wie vor 50 oder gar 100 Jahren? Ausgeschlossen.

Als Nächstes trifft es das Verwaltungsgebäude an Tor 3, auf dessen Dach der charakteristische Stern leuchtet: Das Dach wird in Kürze abgerissen. Seit den 70ern wuchs der Forschungs- und Entwicklungsbereich kontinuierlich. Verschiedene Simulatoren, mehr oder weniger raumgreifend, kamen hinzu, sollen Prozesse vereinfachen und beschleunigen. Ein Klimawindkanal holt seit 2011 die Temperaturzonen dieser Welt nach Sindelfingen.

Neuwagenabholung für Kunden seit 1953

Bereits seit 1953 können die Kunden ihren neuen Mercedes selbst im Werk abholen, 1981 eröffnete dafür ein Kundencenter. Obwohl mehrfach renoviert und modernisiert, bewahrt sich das Gebäude seinen eher spröden Charme und gleicht einer modernen Stadthalle. Nebenan werden in der Gastronomie Schnittchen gereicht. Zuvor rollen die Neuwagen durch eine Waschstraße, schließlich kann hier jeder Kunde sein Auto abholen, ganz gleich, ob es aus Sindelfingen oder auf dem Lkw aus Bremen, Kecskemét oder Hambach kommt. Der 280 SE gönnt sich gerade ein Bad. Danach kommt die Mannschaft mit den Staubsaugern.

Die zwei Männer am Luftfüllautomaten für die Reifen dahinter lassen den Oldtimer passieren – ihm fehlt der Barcode, der dem Computer den korrekten Druck diktiert. Dann rollt der Wagen leise durch die Werkstatt, in der Kennzeichen, Fußmatten und Wasserpäckchen ihren richtigen Platz finden, und landet schließlich in der Auslieferungshalle.

Der Oldtimer ist es, der sie mit Glamour füllt. Keine E-Klasse schafft das auf diese Art, kein CLA, nicht mal das weiße S-Klasse Coupé. Martin Foehl, Leiter der Fahrzeugauslieferung, wundert sich über seine Mitarbeiter und Kunden, die den W116 anhimmeln. "Ich kann damit nicht viel anfangen. Das ist doch nur altes Blech. Ich mag einfach die Sicherheit und den Komfort der neuen Fahrzeuge", kommentiert er knallhart, trocken – und ein bisschen schwäbisch.

Dann streicht er doch ein paarmal um den Wagen, öffnet die Türen, schließt sie wieder. "Wie satt die ins Schloss fallen! Das beeindruckt mich dann doch." Da schau her.

Neuer Altwagen oder alter Neuwagen?

Mercedes nimmt nach drei Jahren wieder den Vertrieb von Old- und Youngtimern auf. Verantwortlich dafür ist die Mercedes-Benz Museum GmbH. Die angebotenen Fahrzeuge (übrigens nicht mehr ausschließlich in Zustandsnote Eins) stehen in der Passage zwischen der Niederlassung und dem Museum. Dort kann auch der ikonengoldene 280 SE, Erstzulassung März 1973, besichtigt werden. Die Limousine hat gerade einmal 85.550 Kilometer auf dem Tacho. Ebenso gering: die Anzahl der Sonderausstattungen. Nicht ganz so gering ist der Preis: 21.990 Euro. Weitere Informationen unter: www.mercedes-benz.com/fahrzeughandel

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Erscheinungsdatum 04.07.2024

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