Bei auto motor und sport und vor allem bei dem Schwestermagazin Motor Klassik genießen wir das Privileg, immer wieder mit historisch wertvollem Gut zusammenzutreffen und es im Idealfall fahren zu dürfen. Es bildet sich deshalb mit den Jahren eine gewisse emotionale Hornhaut aus, auch gegenüber seltenen Autos, sogar gegenüber Ikonen. Aber diesmal ist das anders. Das Auto, das dort in Hessisch Oldendorf auf dem grob geschotterten Platz steht, wird zwar nur bei wenigen Oldtimer-Freunden die Endorphine Blasen schlagen lassen, beim Autor dieser Geschichte dagegen rast das Herz, und die Hände sind schwitzig vor Aufregung.
Diesen VW Prototyp dürfte es gar nicht geben
Denn hier steht ein VW Prototyp der Serie W 30 aus dem Jahr 1937, und den dürfte es eigentlich gar nicht geben. So lautet jedenfalls die Lehrmeinung in der Szene. Schließlich wurden diese Prototypen, erdacht vom Konstruktionsbüro Porsche, im Jahr 1942 vernichtet. Ein Foto zeigt die Porsche-Mitarbeiter bei dieser Arbeit. Wobei, 30 Autos mit dem Vorschlaghammer verschrotten? So ist es wohl eher nicht abgelaufen. Ganz sicher nicht, schließlich steht einer dieser Prototypen für eine erste Ausfahrt bereit.
Aufgebaut haben ihn Vater und Sohn Grundmann, Traugott und Christian, mit ihrem Team. In der Alt-VW-Szene genießen die Grundmanns einen Ruf wie Walter Röhrl in der Gemeinde der Rallye-Fans. Und sie sind vernetzt wie die Telekom. Wenn irgendwo etwas richtig Altes und Rares mit Bezug zu VW auftaucht, erfahren es die Grundmanns, so war es auch beim W 30.
Zwei österreichische VW-Sammler zogen Anfang der 1970er einen stark verrosteten Wehrmachts-Kübelwagen aus einem Wald nahe Gmünd. Die Front des Kübels konnten sie für eines ihrer Projekte gebrauchen, den Rest nicht. Dieser Rest ging über einen weiteren Sammler zunächst an Dieter Krebernik. Ebenfalls VW-Fan und Sammler rarer Dinge. Spätestens ihm fiel auf, dass da etwas ganz Besonderes in seinen Besitz übergegangen war.
Übrig war kaum mehr als ein dickes Stahlrohr
Denn der Rahmen entsprach in seinem Layout zwar beinahe dem der ersten Serien-VW, aber eben nur beinahe. Sehr ungewöhnlich ist die Vorderachsaufnahme, die von der des späteren VW abweicht. Krebernik behielt das Chassis viele Jahre in seiner Sammlung. Mitte der 1990er-Jahre reiste Björn Schewe, VW-Classic-Mitarbeiter und Schulfreund von Christian Grundmann, nach Österreich. Er sah dort den Rahmen, erkannte sofort, dass es sich um ein Vorkriegs-Fragment handeln musste, und berichtete seinem Freund davon. Die Grundmanns wollten Krebernik das Teil abkaufen, es war kaum mehr als ein dickes Stahlrohr, ein Ende gegabelt, am anderen Ende die Aufnahme für die Vorderachse. Erst 2002 ließ sich der Österreicher darauf ein. "Traugott, da musst du schon bluten", mit diesen Worten gingen die Verhandlungen los, wie sich Traugott Grundmann erinnert. Am Ende wechselte ein kompletter VW Schwimmwagen in den Besitz von Dieter Krebernik, die Grundmanns bekamen das rudimentäre Chassis. Und die eigentliche Geschichte begann.
2 Millionen Testkilometer in 2 Jahren
Vor dem Ausschnitt im Tunnel, in dem normalerweise ein Schalthebel stecken sollte, ist eine 26 eingeschlagen. Das Chassis gehört also zum Prototyp Nr. 26 aus der W-30-Serie. Gebaut wurde er Anfang 1937 von Mercedes. Karosserie und Bodengruppe getrennt in den Werken Sindelfingen und Untertürkheim, komplettiert in der Garage der Porsche-Villa am Stuttgarter Killesberg. Die W 30 waren die erste Prototypenflotte weltweit, mit der ein Konstrukteur die Kinderkrankheiten seines Fahrzeugs ausmerzen wollte, bevor die Serienproduktion begann. Die Quellen sprechen von 2 bis 2,5 Millionen Testkilometern, die die Erprobungsfahrer im Mehrschichtbetrieb 1937 bis 1938 auf die grauen Rundlinge schrubbten.
Wagen 26 wurde unter anderem nach Berlin in den Windkanal der TU gefahren, um den Luftwiderstandsbeiwert zu bestimmen. Denn der VW sollte im Unterhalt billig sein, und eine gute Aerodynamik hilft Sprit sparen. Der cW-Wert 0,435 ist für die 1930er-Jahre respektabel.
Nach Abschluss der Erprobungsfahrten wurden einige Prototypen von Porsche-Mitarbeitern als Privatfahrzeuge genutzt. Andere dienten, da sind sich die Experten sicher, in Teilen der Erprobung des Kübelwagens. Die Vermutung liegt insofern sehr nah, dass dies auch für das Chassis mit der Nummer 26 galt.
15 Jahre nach den Felgen gesucht
Und aus ihm wollten die Grundmanns wieder eine komplette Bodengruppe aufbauen. An einen vollständigen Wagen dachten sie zunächst nicht. Aber schon beim Chassis sollte alles so nah am Zustand von 1937 sein wie irgend möglich. Traugott Grundmann berichtet, dass allein die Suche nach den passenden Felgen etwa 15 Jahre gedauert habe. Der Wiederaufbau begann 2016, nach endlosen Stunden Recherche in den Archiven von Mercedes, Porsche und VW. 2018 war die Prototypen-Unterwäsche in groben Zügen konfektioniert und die Grundmanns der Meinung, dass sie und ihr Netzwerk mittlerweile über die Fähigkeiten verfügten, auch das Häuschen wiederauferstehen zu lassen.
VW-Design-Chef Andreas Mindt hatte einen Plan
Mit René Große befand sich der richtige Blechkünstler an Bord, aber ihm fehlten die Maße, um aus Stahlblech eine Karosserie zu formen. Hier kommt Andreas Mindt ins Spiel. Hauptberuflich Designer, mittlerweile Design-Chef bei Volkswagen, nebenberuflich Oldtimer-Enthusiast mit Hang zu luftgekühlten Hecktrieblern und Freund der Grundmanns. Im Juni 2019 machte sich Mindt nach intensiven Fotostudien daran, die Form des W 30 im Maßstab 1:1 wiederauferstehen zu lassen. Zwei komplette Wochenenden baute er die dafür nötigen Illustrationen auf, nachdem er den Grundmanns 15 Jahre zuvor bereits ein großes Bild des W 30 gemalt hatte. Auch dieses Bild war ein Schlüsselreiz, der letztlich zur Restaurierung beigetragen hat.
Mindts 1:1-Plan der Karosserie war der letzte Anstoß für den Wiederaufbau des W 30, bei dem das Team peinlich genau darauf achtete, so viele Komponenten wie möglich aus den 1930er-Jahren zu verwenden. Leuchten, Schalter, Anzeige-Instrument, Fensterhebermechanik, Griffe etc. wurden über Jahre auf Teilemärkten zusammengetragen. Die Archiv-Recherchen machten sich bezahlt, denn Teilelisten von Mercedes und zahllose Detailfotos erlaubten das genaue Bestimmen einzelner Baugruppen oder deren exakte Nachfertigung.
Der Motor passt noch nicht. Er ist Baujahr 1941, wäre für die meisten nahe genug am Original, aber die Grundmanns sind in dieser Hinsicht nicht wie die meisten. Ein Prototypen-Kurbelgehäuse wird aktuell mit zeitgenössischen Teilen komplettiert und kommt dann in das Heck des W 30. Die hinten angeschlagenen Türen, die fehlenden Trittbretter oder die Heckklappe ohne Fenster sind Merkmale, in denen sich der W 30 stark vom späteren VW unterscheidet. Aber die Ähnlichkeit ist offensichtlich.
Der Boxermotor schiebt erstaunlich an
Zum Start braucht der luftgekühlte Boxer einen beherzten Zug am Starterknopf und einen am Choke. Der kleine Vierzylinder springt ohne Drama an, klingt aber anders als seine Enkel. Das Laufgeräusch wird von einem hohen Oberton überlagert, den das gegossene Aluminium-Lüfterrad erzeugt. Auf Drehzahl gebracht pfeift es wie eine Turbine, wird mit zunehmender Tourenzahl allerdings scheinbar leiser. Was auch daran liegen könnte, dass es bei wachsender Geschwindigkeit vom jaulenden Geräusch des unsynchronisierten Getriebes überlagert wird.
Der schmalbrüstige Einliter-Boxer schiebt den Wagen erstaunlich zügig aus dem Stand an. Der erste und zweite Gang sind kurz übersetzt, an Steigungen macht der Vor-VW nicht so schnell schlapp wie viele Altersgenossen.
Verdammt eng, schlechte Sicht, Autor 25 cm zu groß
Die Geschwindigkeit kann nur geschätzt werden – der Tacho ist noch nicht angeschlossen, aber es geht erfreulich munter voran. Schalten ist ein Problem. Der Autor ist zu groß für das Auto, etwa 25 Zentimeter. Das rechte Bein und der Schalthebel kommen sich ständig ins Gehege. Traugott Grundmann versichert, dass Fahrer mit 175 bis 180 cm dieses Problem nicht hätten. Das Fahrwerk hat er straff eingestellt, die überraschend komfortablen Sitze sorgen immerhin für spürbaren Komfort. Für die gekrümmte Haltung sind sie nicht verantwortlich. Es ist die niedrige Windschutzscheibe, die zur Büßerhaltung zwingt, sonst sieht man nach vorn wenig. Allerdings nicht so wenig wie nach hinten.
Der Sehschlitz im Fond erlaubt den Blick in den Motorraum und theoretisch durch die Luftschlitze in der Heckklappe nach draußen. Praktisch sieht man aber nichts. Ein Innenspiegel wird deshalb nicht vermisst, Außenspiegel wären allerdings hilfreich. Andererseits sind wir auf einer Privatstraße ohne Verkehr unterwegs, denn mangels Rücklichtern hat der W 30 aktuell keine Straßenzulassung. Die Grundmanns arbeiten natürlich an einer Lösung.
Es ist halt ein Prototyp
Beim Geradeauslauf benimmt sich der kleine Wagen ganz manierlich, und ist er einmal in Fahrt, ist auch die Lenkung angenehm leichtgängig. Kurven geht er mit einer gewissen Leichtfüßigkeit an, wenn auch nicht unbedingt mit großer Zielgenauigkeit. Es handelt sich eben doch um einen Prototyp, der noch ein Stück von der Serienreife entfernt ist.
Dieser und jeder andere Makel wird ihm aber verziehen, angesichts seiner Bedeutung für die Automobilgeschichte. Denn Nr. 26 ist das älteste fahrende Stück Historie, das in mehr als 21,5 Millionen Käfern und allen anderen VW münden sollte. Sein immaterieller Wert kann gar nicht überschätzt werden. Grund genug für Herzrasen und schwitzige Hände.