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Fahrbericht Mercedes GP von 1914
Sieger zurück in Fahrt

Der letzte Grand Prix vor dem Ersten Weltkrieg wurde zu einem überragenden Dreifachtriumph für das Mercedes-Team: Zum 100. Jubiläum donnerten die Boliden von damals noch einmal über die historische Strecke.

Mercedes GP 1914, Frontansicht
Foto: Dino Eisele

Der Atem der Geschichte bläst uns mit mehr als 100 Kilometern pro Stunde mitten ins Gesicht. Er schiebt die Ledermütze nach hinten, zerrt an der Brille, pfeift am Kragen der Ölhaut ein schnarrendes Liedchen und vermischt sich schließlich am Heck mit dem Schmauch, der aus dem armdicken Auspuffrohr quillt.

Wer auf einer Kanonenkugel über den 37,63 Kilometer langen Straßenkurs von Lyon reitet, darf sich darüber nicht beschweren. Er muss die Blechkanten der Sitzschalen mannhaft ertragen wie stumpfe Tranchiermesser im Fleisch, muss sich die Zehen im engen Fußraum unter dem Schmiedehammer des Kupplungspedals fast brechen lassen und hat sich alle paar Kilometer nach dem Ölhahn zu krümmen, der Tropfen um Tropfen in das Schmierstoff-Labyrinth des Vierzylinders entlässt. Mit dem Hebel der Luftpumpe hinter dem Kopf des Fahrers ist der Benzintank unter genügend Druck zu setzen, damit der schwirrende Zeiger im Manometer nie unter eine halbe Atmosphäre Überdruck fällt; der ganz normale Berufsverkehr neben und hinter dem Rennwagen will beobachtet sein, und mit einem lauthals gebrüllten Wörter-stakkato muss der Kopilot schließlich den Fahrer von seinen Wahrnehmungen in Kenntnis setzen. Wer da noch wie Miss Daisy am Geburtstag in die Kamera lächeln soll, wird jämmerlich versagen.

Nur für harte Männer

Das war schon vor 100 Jahren so. Die Gesichter der historischen Grand-Prix-Fahrer und ihrer Nebensitzer wirken auf den alten Fotografien oft wie gespannte Masken eines selbstquälerischen Durchhaltewillens, voll des Respekts vor dem Teufelstempo nahe der 200 km/h, des überreizten Lauschens in die singende, polternde Sinfonie aus Motorenklang, Getriebeheulen und den harten Paukenschlägen des Fahrwerks.

Die Straßen sind heute zwar asphaltiert und besser planiert, aber jede kleine Unebenheit gibt bei dem Tempo, das wir fahren, einen katapultierenden Nachgeschmack jener fernen Zeit, als für den Grand Prix zwar roter Porphyr in die Sandstraßen gewalzt, ansonsten aber die Route im Naturzustand belassen wurde.

Nach knapp 20 Kilometern werden wir in ein Depot geflaggt. Vom Beifahrer unerwartet, gelingt es dem Fahrer Jochen Mass, trotz fehlender Vorderradbremsen den schlanken weißen Grand-Prix-Pfeil punktgenau zum Halt zu bringen. Kurzer Check besonders der Radmuttern und der Ölstände, dann geht es retour. Der Job des Bordmechanikers hat nun schon einen Anflug von Routine, und langsam dämmert eine dunkle Ahnung von den Strapazen, die ein Grand-Prix-Rennen einst bedeutete.

Das einzige Servoelement der Lenkung war der Bizeps des Fahrers. Die stramme Kupplung vor dem geradeverzahnten Vierganggetriebe wollte bei jedem Schaltmanöver zweimal getreten sein, und die harten Schalensitze boten weder ein bequemes Polster noch eine brauchbare Abstützung des Oberkörpers.

20 Runden schrieb das Reglement damals vor; insgesamt 752,6 Kilometer auf einem Straßenkurs nahe Lyon. Gestartet wurde bei Les-Sept-Chemins südlich von Brignais, wo sich einst die technische Abnahme befand. Eine Spitzkehre herum um das Restaurant, das früher nicht "Cantina Road", sondern "Terminus" hieß, und auf dessen Dach der Wirt eine doppelstöckige Tribüne eingerichtet hatte, für amerikanische Grand-Prix-Besucher. Die zahlten 150 Francs pro Stehplatz. Weiter führte die Piste nach Givors, von wo an sich ein langes Kurvengeschlängel durch das Tal des Gier zog, bis zum Wendepunkt des Kurses bei La Madeleine.

Spitzengeschwindigkeit? 210!

Hier schloss sich eine motorenmordende Vollgasgerade an, mehr als zwölf Kilometer praktisch ohne Kurven. Die schnellsten Grand-Prix-Renner von Peugeot, aerodynamisch verkleidet, donnern 1914 mit 210 km/h dem Einlauf zur Start- und Zielgeraden entgegen. Die Rechts-Links-Kurve davor trägt den vertrauenerweckenden Namen "piège de la mort" – Todesfalle. Der Mercedes des späteren Siegers Christian Lautenschlager erreicht vor dem Bremspunkt immerhin Tempo 194.

Grand-Prix-Rennen gab es damals erst seit acht Jahren. 1906 hatte der französische Automobilclub beschlossen, die internationalen Gordon-Bennett-Rennen durch einen Grand Prix zu ersetzen, bei dem mehr als die bis dahin vorgeschriebenen drei Wagen pro teilnehmendem Land an den Start gehen durften. Den ersten GP des Automobilclub de France (ACF) auf einem Straßenkurs bei Le Mans gewinnt der Ungar Ferenc Szisz auf Renault; bester Mercedes-Fahrer wird Camille Jenatzy auf Rang zehn. 1907 wird bei Dieppe gefahren, Felice Nazzaro gewinnt auf Fiat vor Szisz, Ernest Hémery belegt mit dem besten Mercedes erneut Rang zehn. 1908 gewinnt den GP dann erstmals ein Schwabe: Christian Lautenschlager auf Mercedes ist der Sieger, Markenkollege Willy Pöge wird Fünfter.

Erste Krise im GP-Sport

Im Anschluss rutscht der GP-Sport in seine erste Krise. Vielen Herstellern werden die Kosten für wettbewerbsfähige GP-Rennwagen zu hoch, den Deutschen nimmt man ihren Sieg dazu ein wenig krumm. Erst 1912 gibt es wieder einen Grand Prix des ACF, ebenfalls bei Dieppe. Gefahren wird über zwei Tage, der Sieger heißt Georges Boillot auf Peugeot vor Louis Wagner auf Fiat. Einziger deutscher Teilnehmer ist ein Mathis mit nur 1,8 Litern Hubraum. 1913 findet der Grand Prix des französischen Automobilclubs ACF diesmal nahe Amiens statt, erneut ohne Mercedes, mit nur 20 Startern. Es gewinnt erneut Boillot auf Peugeot.

Doch zum GP am 4. Juli 1914 beschließt Mercedes die Rückkehr. Neue technische Regeln bedeuten für alle Teilnehmer die gleiche Schwierigkeit: Mit einem maximal zulässigen Hubraum von nur 4,5 Litern werden die Zylinderinhalte der alten GP-Motoren für die Saison 1914 praktisch halbiert, und mehr als 1.100 Kilogramm dürfen die Rennwagen nicht wiegen. Die erlaubte Breite wird mit 1,75 Metern festgelegt.

Während Baurat Paul Daimler einen Kettenwagen bauen will, besteht der rennfahrende Betriebsmeister Otto Salzer auf einem Kardanantrieb: "Den hat 1913 auch Peugeot gefahren, und er ist heute leichter als ein Kettenantrieb." Daimler lässt nachwiegen – und wechselt auf Kardanantrieb.

Als einziger Hersteller nennt Daimler fünf Rennwagen. Gefahren werden sie von Männern aus dem Fahrversuch, Christian Lautenschlager, Otto Salzer und Max Sailer, verstärkt vom belgischen Mercedes-Vertreter Théodore Pilette und dem von Fiat ausgeliehenen Pariser Louis Wagner. Mit einem sechsten Reservewagen hält sich dazu Alfred Vischer bereit, falls im Training einer der fünf Werksrenner ausfallen sollte. Die letzte Reserve bildet schließlich ein GP-Chassis ohne Aufbau. War doch schon Otto Salzer bei einer Probefahrt auf der Geislinger Steige mit gebrochener Kurbelwelle liegen geblieben. Auf der Suche nach dem besten Material entschied sich Daimler danach für den aus Österreich stammenden Aquila-Stahl der Firma Danner.

Wer soll Boillot schlagen?

Zum Rennen treten insgesamt 37 Automobile an, darunter die Marken Alda, Opel, Nagant, Vauxhall, Pic-Pic, Fiat, Delage, Schneider, Nazzaro, Sunbeam, Aquila-Italiana, Peugeot – und Mercedes. Für die meisten der 300.000 Zuschauer steht der Gewinner bereits am Start fest: Wer soll Georges Boillot und seinen Peugeot schlagen? Hatte diese Paarung nicht schon bei den Großen Preisen von 1912 und 1913 gesiegt? Punkt acht Uhr morgens gehen die ersten beiden Konkurrenten auf die Strecke.

Sailer führt vom Start weg, fällt in der sechsten Runde aber mit abgerissenem Pleuel aus. Vor ihm war bereits Pilette ausgeschieden – Bruch der Kardanwelle. Boillot übernimmt die Spitze. Nach der zehnten Runde wechseln alle drei im Rennen verbliebenen Mercedes-Fahrer routinemäßig die Reifen – fast alle. Der Franzose Wagner spart sich die dreieinhalb Minuten dafür und jagt den führenden Peugeot. Doch nach der 14. Runde braucht auch er neue Pneus.

Die Mercedes schließen stetig auf. Boillot fährt mit dem Mut der Verzweiflung und versucht, seine Rundenzeit noch einmal zu verbessern. Er ist fünfeinhalb Minuten vor Lautenschlager gestartet und hat so auf der Strecke stets vorn gelegen, auch wenn der Mercedes beunruhigend aufgeholt hat. In der 19. Runde führt Lautenschlager erstmals den Grand Prix mit der insgesamt kürzeren Fahrzeit an. Die Zuschauer fiebern am Ende der letzten Runde dem Rennwagen entgegen, der als Erster in die Todeskurve vor Start und Ziel einbiegen wird – blau oder weiß? Es ist der Mercedes von Lautenschlager mit seinem Mechaniker Hans Rieger.

Boillots Peugeot ist eine halbe Runde vor Schluss mit multiplen Gebrechen liegen geblieben: Das Differenzial streikt, eine Zugstange der Vorderradbremse ist ausgefallen, die Befestigung der Lenksäule hat sich gelöst, und außerdem macht ein Ventil Sperenzchen. Boillot bricht über dem Lenkrad zusammen und weint vor Enttäuschung, als Lautenschlager mit kerngesund klingendem Motor vorüberjagt. Es ist das erste Mal, dass sich beide Konkurrenten im Rennen zu Gesicht bekommen. Wagner und Salzer haben den zweiten Peugeot mit Jules Goux schon lange von Rang drei verdrängt. Der Mercedes-Triumph ist überwältigend, und sogar die enttäuschten französischen Zuschauer applaudieren mit sportlicher Fairness.

Der Motor aus Lautenschlagers Siegerwagen befindet sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in England und dient als Vorbild für den Hawk-Flugzeugmotor von Rolls-Royce. Überarbeitete Versionen der GP-Maschinen anno 1914 laufen noch in den späten 20er-Jahren erfolgreich in Rennen.

Ihr größter historischer Erfolg bleibt jedoch der GP Lyon. Er gilt bis heute als einer der härtesten Grand Prix: 26 Rennwagen von 37 gestarteten bleiben auf der Strecke. Zünftig das Fest daheim: Daimler mietet die Cannstatter Rollschuh-Halle, lässt sie bestuhlen und feiert mit allen Mitarbeitern den epischen Sieg von Christian Lautenschlager, Louis Wagner und Otto Salzer.

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