Es ist nicht etwa so, wie die Legende sagt. Es war nicht alles öder Sumpf, als Zar Peter der Große, im frühen 18. Jahrhundert befahl, hier eine Stadt zu bauen. Die Schweden waren schon da und bewirtschafteten das Gebiet, und genau das war das Problem.
Peter wollte die Skandinavier loswerden, und er wollte einen befestigten Hafen an der Ostsee, also ließ er an der Mündung der Newa die Festung Peter und Paul bauen und dazu eine neue Stadt, die er nicht etwa nach sich selbst benannte, sondern nach dem heiligen Petrus.
Petrograd, Leningrad, Sankt Petersburg
Hochrangige Vertreter der orthodoxen Kirche rieten eindringlich von dem Vorhaben ab, aber deren Hartnäckigkeit, das Projekt zu Fall zu bringen, konterte der Zar mit Sturheit. Er verbot jedem, über etwaige Nachteile der Aktion laut zu reden, denn bald setzte ein Bauboom ein, der in nur neun Jahren eine blühende Metropole mit barocken Palästen entstehen ließ, die ihm so gut gefiel, dass er das alte Moskau rechts liegen ließ und "das Venedig des Nordens" zur Hauptstadt machte.
"Willkommen in Petersburg", sagt Mitrij der Stadtführer. Eigentlich heißt er Dimitrij, aber Namensänderungen gehören hier zur Tradition. Zu Beginn des ersten Weltkrieges entfernte man den deutschen Namen der Stadt und nannte sie russisch Petrograd. Nach der Oktoberrevolution 1917 wiederum wurde sie in Leningrad umgetauft, schließlich hatte der große Genosse hier den Umsturz losgetreten. Erst 1991 entschied ein Volksentscheid knapp, den alten Namen wieder vorzuholen. Als Kompromiss heißt der Verwaltungsbezirk weiter "Heldenstadt Leningrad".
Vierspurige Autobahn - eine Wohltat
Als solcher hält er für unsere einwöchige Tour durch Russland eine Neuerung bereit. Erstmals in den Außenbezirken der zweitgrößten Stadt Russlands steht ein grünes Autobahn-Schild an der Straße. Das rund 360 Kilometer lange Stück zwischen Welikij Nowgorod und Petersburg hat immerhin fast weitestgehend vier Spuren, aber eine richtige Autobahn haben wir auf den gesamten rund 3.000 Kilometern seit der kasachischen Grenze nicht befahren.
Welch schöne Ruhe, ohne prasselnde Steine am Unterboden. Ohne das Quietschen der Styroporboxen auf den unzähligen Buckeln der tausendfach geflickten Pisten. Tempo 110 ist erlaubt, aber das ist in zweierlei Hinsicht reine Theorie. Zum einen brettern die meisten Einheimischen locker mit 140 oder schneller über die linke Spur, zum zweiten müssen wir ein bisschen mit dem Wasserstoff haushalten und gehen nicht mehr über Tempo 100.
Roadbook Tripy lässt uns im Stich
Das wäre natürlich nicht notwendig gewesen, wäre man in Lyban nicht über den schmalen Abzweig hinausgeschossen. Erst nach 20 Kilometern bemerkt der russische Kollege Jurij, dass unser elektronisches Roadbook Tripy seit geraumer Zeit meldet, dass sich unsere eigentliche Route zehn Kilometer weiter östlich befindet. Prompt kommt der Anruf des Konvoichefs: "Seit Ihr falsch gefahren?" Gegenfrage: "Überwachst du uns etwa?" "Nee", sagt Jürgen Banken, "Ihr seid mir nur gerade entgegengekommen." Er hat im führenden GL selbst die falsche Strecke genommen und im Schlepptau kommen auch gleich drei weitere schwarze Mercedes daher. Entweder haben wir alle kollektiv gepennt, oder Tripy hat das übliche Signal beim Passieren der Tausendmetermarke vor einem wichtigen Zeichen nicht gegeben.
Wie auch immer, so werden aus eher kommoden 270 Kilometern am Ende über 320. Heute ist zwischendurch ausnahmsweise kein Tankstopp vorgesehen, da muss man schon ein Auge auf die Tankanzeige haben. Gegen Mittag ist die Stadt auf der Ringautobahn bereits umgangen und das Etappen-Ziel erreicht.
Heimatgefilde Ostsee
Die Luft ist kalt. Verwöhnt mit 24 Grad in Moskau und mit Nachrichten von Hitzegewittern bei 27 Grad in Deutschland, sind 12 Grad nicht gerade das, was wir erwartet haben. Das Seeklima schiebt die Kaltluft vom Finnischen Meerbusen herüber, nach dem Überqueren von Atlantik, Pazifik und dem chinesischen Meer, schwappt erstmals wieder Wasser an den Strand, das uns bekannt vorkommt. Wir sind an der Ostsee, und zwar am östlichsten Ende. Gleichzeitig sind wir auf unserer Erdumrundung so weit nach Norden gereist wie noch nie. St. Petersburg liegt auf gleicher Höhe wie Alaska, na ja, immerhin Südalaska.
"Das Seeklima sorgt dafür, dass wir es im Winter nicht so extrem kalt haben", doziert Mitrij, der im Hauptberuf Englisch an der Wirtschaftsuniversität unterrichtet. Im Durchschnitt herrschen dann angeblich minus 20 Grad, und auch im Sommer wird es selten wirklich heiß. "Einen so schönen Tag wie heute – ganz ohne Regen und Wind – haben wir allenfalls vier oder fünf Mal im Jahr", behauptet der Stadtführer, dem wir zu dritt brav hinterhertraben, bis der Winterpalast in Sicht kommt, vor dem eine 200 Meter lange Schlange auf Einlass wartet.
Wo wir gerade von Massen sprechen: Die Newa ist zwar mit 74 Kilometern ein extrem kurzer Fluss, hat aber von ihrem Ursprung im Ladogasee bis zum Meer eine beträchtliche Tiefe und Breite und führt daher mehr Wasser als der Rhein. Wer bis vor wenigen Jahren spät von einer Party kam und ans andere Ufer musste, konnte gleich an Ort und Stelle durchfeiern. Sämtliche Brücken über den Fluss sind Zugbrücken, die nachts den Schiffsverkehr durchlassen, nur zwölf Kilometer südlich gibt es eine feste Brücke in die Stadt, die auf 42 mit Granit befestigten Inseln erbaut ist und zahllose Kanäle führt.
Versklavung des Volkes, Vertreibung des Zaren
Wie im südlichen Venedig ist ein großer Teil der Stadt auf Pfählen gebaut, weil dank der Rücksichtslosigkeit ihres Schöpfers Zehntausende Zwangsarbeiter ums Leben kamen, sagen manche, sie ruhe in Wahrheit auf Skeletten. Das gemeine Volk hat es den Zaren heimgezahlt. Nach der Oktoberrevolution wurde die gesamte Familie Romanov zunächst nach Sibirien verschleppt und dann erschossen. Nun liegt Nikolaus, der Zweite neben diversen anderen Zaren in der Festung Peter und Paul begraben.
An der Oberfläche wirkt die Stadt dagegen mit ihrer Unzahl von prächtigen klassizistischen oder barocken Gebäuden kein bisschen morbide. Über 200 Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Mitrij zeigt uns mit Stolz den Gebäudekomplex der "Zwölf Kollegien". An der Eliteuniversität haben Staatspräsident Putin und Premier Medwedjew Jura studiert, bevor sie beide zum gefürchteten Geheimdienst KGB wechselten.
Die Frage, ob es die Russen nicht stört, von zwei ehemaligen Agenten regiert zu werden, beantwortet Mitrij typisch russisch mit einem Schulterzucken. "Was willst du machen?" sagt er. Spionage hat gerade in St. Petersburg eine Jahrhunderte lange Tradition. Schon Peter der Große ließ in großem Stil Handwerker und Ingenieure aus ganz Europa, vor allem den Niederlanden kommen, die Architekten warb er in Italien an.
Während seiner Herrschaft bis 1792 war sein Reich größer als die ehemalige Sowjetunion, schließlich gehörten auch noch Teile West-Chinas in Asien, Alaska auf dem amerikanischen Kontinent und Finnland in Europa dazu. Uns war Russland auch so groß genug. Sieben Tage sind wir im immer noch größten Land der Erde von West-Sibirien unterwegs gewesen. Mitrij hebt beeindruckt die Brauen: "Also ehrlich gesagt, nach so einer langen Fahrt hätte ich keine Lust mehr auf eine Stadtführung mit drei Stunden Fußmarsch."