Mercedes F-Cell World Drive Tag 59: Hinter dem traurigen Engel

Mercedes F-Cell World Drive Tag 59
Hinter dem traurigen Engel

Veröffentlicht am 19.05.2011

Da steht er wieder mal. Wie so oft lungert er auf einem Platz am Rande des Parks. Aber er trägt heute nicht wie sonst den schweren Mantel, stattdessen hat er eine kurze Jacke lässig über die Schulter gehängt. Er wirkt auch nicht so gedrungen wie sonst, sondern etwas größer. Dafür trägt er die Nase aber nicht so hoch wie üblich.
 
Was mag Wladimir Iljitsch Uljanow durch den Kopf gehen. Denkt er schon an die Befreiung der Arbeiterklasse, an die Revolution, an die Diktatur des Proletariats? Oder denkt er an die nächste Erstsemersterparty und das Mädchen mit den unfassbar langen Beinen da drüben auf dem Zebrastreifen? Was ging in dir vor als du jung warst, Genosse Lenin?

Wohlfühlen in Kasan

Wie üblich in Bronze steht er auf einer Säule über einem Tulpenbeet und blickt auf seine ehemalige Lehranstalt, die Universität von Kasan. Der lange Säulenbau ist vor nicht allzu langer Zeit gestrichen worden und blendet fast in der Morgensonne. Wer die Hauptstraße weiterfährt, vorbei an frisch austreibenden Bäumen und klassizistischen Stadthäusern kommt zum ebenfalls strahlend weißen Tor des Kremls, davor wieder eine Bronzestatue, der Arbeiter in Ketten.
 
Obwohl die Saat der Oktoberrevolution sozusagen hier in Kasan gelegt wurde, ist anders als in den Städten, die wir bisher in Russland gesehen haben, am wenigsten von ihren Auswirkungen zu sehen. In der Altstadt finden sich noch massenweise Straßenzüge aus der Zarenzeit. Das neue Russland blickt mit neuen Apartmenthäusern vom Westufer der Kama herüber, die trostlose Architektur der kommunistischen Ära findet sich erst dahinter. Es ist das erste Mal seit dem Grenzübertritt vor vier Tagen, an dem ein Gefühl von "Hier möchte ich wohnen" aufkommt.
 
Das verstärkt sich noch, als wir eine Stunde später die Stadt verlassen und einen breiten Fluss mit ausufernden Auen überqueren. Am Ostufer werden nagelneue Blockhäuser in schickem Design gebaut, jede Datscha hat Blick aufs Wasser. Es ist unsere erste Begegnung mit der Wolga.

Mütterchen Wolga

In einer sumpfigen Gegend nördlich von Moskau schlängelt sich noch niedlich und unscheinbar ein Flüsschen, das sich schließlich über dreieinhalbtausend Kilometer später in Astrachan auf 200 Kilometern Breite mit etwa 800 Armen ins Kaspische Meer ergießt – die Wolga. Für die Russen ist sie die Mutter aller Flüsse. Die Wolga ist der mächtigste Strom Europas.
 
Egal ob Gütertransport, Fischfang oder Tourismus, die Wolga ist unersetzlich. Die großen Städte liegen an ihrem steileren Westufer, weil die flache Ostseite immer wieder von Überschwemmungen heimgesucht wurde. Da macht auch unser heutiges Etappenziel Nischnij Nowgorod keine Ausnahme.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Auch wenn die Etappe mit rund 400 Kilometern eher kurz ist, kommt sie vielen nicht so vor. Zwar sind die Straßen seit Sibirien stetig besser geworden, doch mehrspurige Autobahnen existieren auch im modernen Russland selbst auf wichtigen Verbindungen nur teilweise. Immer wieder geht es mit Tempo 50 mehrere Kilometer bei durchgezogener Linie hinter einer Kette von Lastwagen bergan. Das Auge ist auf Fernsicht gestellt und sucht den Horizont nach Polizeiwagen ab.

Und wieder die Polizei

So langsam wird es absurd. Wir fahren permanent mit Licht, halten uns ans Tempolimit, und dennoch kannst du nie sicher sein, ob an einem der etwa alle 50 Kilometer errichteten Polizeiposten die Trillerpfeife schrillt oder der Leuchtstab Einhalt gebietet. Eines der Begleitfahrzeuge haben sie heute angehalten und behauptet, der Beifahrer sei nicht angeschnallt. Der trug ein schwarzes T-Shirt und zog grinsend den einfach nur schwer sichtbaren Gurt vor die Brust. Daraufhin will der Beamte den Kofferraum sehen. Weil sich der Fahrer dazu bereits abgeschnallt hat, sagt der Polizist prompt: "Ha, aber du bist nicht angeschnallt." Er zückt ein Bündel Geld als Hinweis für Touristen, die schwer von Begriff sind. Als er damit nicht weiterkommt, zieht er am Ende mit einer Cola ab.
 
Am Himmel ziehen Wolken auf. Zwischendurch geht sogar ein Schauer nieder. Bisher waren wir in Russland immer mit strahlendem Sonnenschein verwöhnt. Heute empfiehlt sich beim Tankstopp ein Pullover.
 
"So langsam verliert es seinen Reiz", sagt Christian, und er meint die Landschaft, die mit ihren Wäldern und Äckern auch nicht anders aussieht als diverse andere Landstriche in Deutschland. Nur kann man die eher öden Gegenden bei uns auf Autobahnen schneller hinter sich lassen.

 Ein Lichtblick ist der Abstecher ins kleine Städchen Liskovo am frühen Nachmittag. Die meisten Häuser könnten ebenso wie die meisten Autos mal einen neuen Anstrich vertragen, aber die Mischung aus leicht angegammelten Villen und Kirchen aus der Zarenzeit und den Holzhäusern mit kunstvoll geschnitzten Fensterrahmen hat ihren Charme. Mit etwas Geld würde anderorts innerhalb eines halben Jahrzehnts ein Musterdorf entstehen, das in jedem Reiseführer angepriesen würde und sich vor Touristen kaum retten könnte.
 
Der niedergeschlagene, steinerne Soldat am Denkmal des großen vaterländischen Krieges erinnert daran, dass schon einmal Horden aus der Fremde in Russland eingefallen waren. Wie in vielen Dörfern brennt ein ewiges Feuer und lässt die Luft vor den Tafeln mit den eingravierten Namen der Gefallenen vor dem Auge flimmern. Das Menschen verachtende Nazi-Regime und die Menschen verachtende Kriegsführung Stalins kosteten Millionen Söhne Russlands das Leben. Auch wenn du mehr als 30 Jahre nach Kriegsende geboren wurdest, kannst du zuweilen nicht anders, als dich zu schämen.

Schönheit beginnt hinter dem traurigen Engel

100 Meter hinter dem Eingang des langgezogenen Parks am Stadtrand von Nischnij Nowgorod steht ein bronzener Engel, der einen Gefallenen hält. Auch die viertgrößte Stadt Russlands mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern hatte eine Menge Opfer zu beklagen. Und auch nach dem Krieg mussten die Menschen viele Opfer bringen. Die Stadt beherbergte viele Rüstungsbetriebe und war für die Außenwelt bis 1990 abgeriegelt.
 
In der Kommunismus-Ära hieß sie Gorkij, nach dem Schriftsteller Maxim Gorkij, der hier aufwuchs. Zwangsweise verbrachte der Physiker Andrej Sacharow viele Jahre in der Stadt. Der 1989 verstorbene Bürgerrechtler stand hier streng bewacht unter Hausarrest.
 
Die "Untere Neustadt", wie Nischnij Nowgorod in der deutschen Übersetzung heißt, war schon kurz nach ihrer Gründung vor knapp 800 Jahren ein wichtiger Warenumschlagplatz. Trotz der Bausünden der Kommunisten finden sich in der Stadt mehr als 600 historische Gebäude oder Monumente. Nischnij Nowgorod gehört zur Liste der 100 Städte, die die UNESCO zu Orten von besonderem historischen und kulturellen Wert aufgestellt hat.
 
Zu verdanken hat sie ihren alten Glanz und Reichtum dem, was hinter dem traurigen Engel im Park zu finden ist. Über 100 Meter fällt der Hang steil ab, und zu seinen Füßen fließt die Oka, die sich hier mit der Wolga verbindet. Christian zückt sein I-Phone. "Mach mal ein Bild von mir. Hätte nie gedacht, dass ich hier mal hinkomme."