Mercedes F-Cell World Drive Tag 57: Zurück in Europa

Mercedes F-Cell World Drive Tag 57
Zurück in Europa

Veröffentlicht am 16.05.2011

Kaum eine Nation fürchtet sich so sehr vor unsichtbaren Bedrohungen wie die Deutschen. Grassiert irgendwo auf dem Planeten die Vogelgrippe, legen wir die Notrufleitungen der Feuerwehr lahm, weil eine tote Amsel auf dem Fensterbrett liegt. Nichts macht uns allerdings so viel Angst wie Radioaktivität. Mitten in Asien erreichen uns Nachrichten, dass seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima der Umsatz japanischer Restaurants in der Heimat eingebrochen ist. Zudem sollen Geigerzähler ausverkauft sein.
 
Dabei sind die aktuellen Geschehnisse nichts im Vergleich zu dem, was sich vor rund fünf Jahrzehnten in Chelyabinsk abgespielt hat. Seit Stalin gegen Ende der Vierziger Jahre den Bau einer Wasserstoffbombe befohlen hatte, war die Stadt im Südural das russische Zentrum für Nuklearforschung und Atomwaffen und Nuklearforschung. Die streng gesicherte Anlage lag rund eine Autostunde von der heutigen Millionenstadt entfernt, die damals als kleines Dorf begann.

Auf den großen Knall folgte die radioaktive Wolke

Jahrelang hantierten die Forscher mit angereichertem Uran und hochgiftigem Plutonium, um die Menschen machten sich die Mächtigen wenig Sorgen, es handelte sich ohnehin vielfach um Zwangsarbeiter. Radioaktive Abfälle landeten im nahen Fluss. Tausende sollen an Strahlung und Vergiftungen ums Leben gekommen sein, bis es zum großen Knall kam. Die Explosion im Jahr 1959 soll noch 50 Kilometer weit zu hören gewesen sein. Eine radioaktive Wolke zog über den Ural und hinterließ eine Spur der Verwüstung.
 
Der Kreml versuchte die Angelegenheit zu vertuschen. Diverse Ortschaften wurden zu Sperrgebieten erklärt oder abgerissen. Den vertriebenen Bewohnern log man vor, man benötige den Platz für Ölbohrungen. Danach machte man ungerührt weiter. Chelyabinsk ist auch heute noch die größte atomare Wiederaufarbeitungsanlage Russlands. Selbst Brennelemente aus Deutschland sollen hier angeliefert werden. Die russische Atomwirtschaft ist willig und billig.

Lenin blickt in die rosige Zukunft

Trotz der grausigen Vergangenheit hat es durchaus seinen Reiz, auf dem Platz der Revolution im Stadtzentrum von Chelyabinsk zu stehen. Lenin steht hier noch hoch im Kurs. 20 Meter hoch blickt er mit hoch gerecktem Kinn immer noch in eine angeblich bessere Zukunft, den Aufbruch mit wehenden Rockschößen verkündend. Vor zwei Jahrzehnten wäre niemand von uns je hierher gekommen. Chelyabinsk gehörte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu 15 geschlossenen Städten, denen sich kein Ausländer nähern durfte.
 
Aber nun genug gegruselt. Wir müssen los, denn anderthalb Autostunden westlich wartet Walter mit dem Weitwinkelobjektiv. Der Mercedes F-Cell World Drive überquert heute den Ural, das Grenzgebirge zwischen Asien und Europa. 2.000 Kilometer erstreckt sich das Gebirgsmassiv von Nordost nach Südwest, von der kasachischen Grenze bis oben zum Nordpolarmeer.

Hoch auf dem roten Wagen

Wir haben uns allerdings mehr versprochen. Wir wollen nicht undankbar sein, nach dem platten Westsibirien mit seiner Birkenwaldmonotonie sind wir für jedes Hügelchen und Tannenbäumchen dankbar, nur dachten wir beim Wort Ural an etwas Monumentaleres als diese Hügellandschaft mit ihren Kiefernwäldern.

Der Höhenmesser klettert gerade mal auf 500 Meter über Normalnull. Wie stehen wir denn zu Hause da, wenn rauskommt, dass wir bei unseren schillernden Erzählungen über die Überquerung des Ural in Wahrheit über ein paar Buckel in der Landschaft reden. Da war es ja spektakulärer, den Ural in Kasachstan bestiegen zu haben, ein gleichnamiger Feuerwehrlöschwagen von vier Metern Höhe.
 
Ein solcher steht auch an der Mittags-Tankstelle bei Bakal. Wir sind alle ein bisschen neidisch auf den stellvertretenden Konvoichef Jochen Sand, denn der durfte in den letzten Tagen schon mehrmals eines der Ungetüme Probe fahren. Das knallrote Feuerwehrauto und der dunkelblaue See bilden einen schönen Kontrast.

Europa riecht nach Urin

Die Truckfahrer sitzen auf einer Terrasse am See und rauchen, einige Kollegen lassen Steine übers Wasser hüpfen. In jedem Fall alles besser als das Denkmal vor einer Stunde, wo sich alle umgeben von Plastikmüll und eingehüllt in eine Urinwolke für ein Gruppenbild vor dem großen Schild aufbauten, das die Grenze zu Europa markiert.

Mancher mag erleichtert sein über die Rückkehr in heimischere Gefilde, für jemanden, der sich seit eineinhalb Monaten auf der anderen Seite des Planeten herumtrieb ist es ein etwas schales Gefühl. Egal, ob das hier noch tiefstes Russland ist, Europa, das ist das Vertraute, das Altbekannte. Jede Weltreise hat ihr Ende, das wird in diesem Augenblick erstmals richtig deutlich. Mit dem Gestank nach Pisse ist auch der Hauch von der Exotik Asiens weggeweht.

Die windschiefsten Hütten der Welt

Dabei ist auch die europäische Seite des Ural immer noch eine komplett andere Welt. Nur zwei Kilometer oberhalb des Tankplatzes erheben sich die Fördertürme einer Erzmine in den Himmel. Der Bergrücken ist längst kahl gefräst. Der Ural ist ein reiches Gebirge. Außer Öl, Erdgas, Kohle, Graphit, Marmor und anderen Erzen finden sich hier die größten Malachitvorkommen der Welt, und unterhalb dieser Mine anscheinend auch die windschiefsten Hütten der Welt.

Es muss ein heftiger Sturm gewesen sein, der diverse Häuser teilweise abdeckte und ihre morschen Wände einfach zur Seite drückte. Da, wo noch ein Dach drauf ist, wohnen auch noch Menschen. Angesichts der Holzhäuschen, der wackligen Lattenzäune, der bemalten Fensterrahmen und Pferdefuhrwerke kommt sich der Besucher vor wie ein Zeitreisender.
 
Der Trainingsanzug aus den Siebzigern, in dem die dünne Zwölfjährige forsch die Dorfstraße raufmarschiert, beweist, dass wir nicht plötzlich durch eine weitere, verschleierte Nuklearkatastrophe im 18. Jahrhundert gelandet sind. Sie spricht den fremden Gast auf Russisch an, und weil der selbigem nicht mächtig ist, antwortet er: "Germania." Sie zieht die Brauen hoch. „Ah, Germania.“ Offensichtlich hat sie davon gehört. Sie läuft weiter, ist augenblicklich um mehrere Zentimeter gewachsen. Sie trägt den Kopf hoch in der Luft, als wäre sie die Gralshüterin eines neuen Geheimwissens, als sie zwei kleinen, dummen Jungs gegenübertritt, die ja keine Ahnung haben, was sich gerade in ihrem Dorf abspielt.

Polizei-Verfolgung mit Blaulicht

Es ist ein bisschen spät geworden. Wir müssen sehen, dass wir das Etappenziel Ufa erreichen. Die Straße führt oft kilometerweit schnurgerade dahin. Der Verkehr hat deutlich zugenommen, lange Lastwagenkonvois quälen sich mühsam vorwärts. Am Straßenrand steht unser Viano mit dem Kamerakran des TV-Teams. Wegen Missachtung des Überholverbots haben die Beamten Kameramann Raphael und seinen Kollegen Moritz zu stoppen versucht. Weil die einfach weiterfuhren, hatten die Beamten gar mit Blaulicht die Verfolgung aufnehmen müssen.

Sprachbarriere gegen korrupte Polizisten

Russlands Polizisten sind weit über die Landesgrenzen wegen ihrer Korruption verschrien. Haltloses Abkassieren ohne wirkliche Gründe sind an der Tagesordnung. Aber unser Kamerateam war schon mehrfach im Lande und ist wenig beeindruckt, als der Polizist zornig schnaufend die Papiere verlangt. Raphael spricht ihn auf Deutsch an, betont er habe keine Rubel.  Die Staatsgewalt merkt schnell, dass sich die Urteilsvollstreckung schwierig gestaltet.

Heikel wird die Lage, als der Teamdoktor zur ersten Hilfe naht. Er hat hinten im Medical Car eine Dolmetscherin sitzen. Raphael schickt die Hilfstruppen eilig weiter, die Sprachbarriere ist das beste Bollwerk, mit dem er die Uniformierten aufhalten kann. Die lassen ihn tatsächlich nach einer Viertelstunde unbehelligt weiterziehen. Es ist heute schon der zweite Kontrollposten, der sich die Zähne an den Fremden ausbeißt.

Öllager steht in Flammen

Auch für die nicht von der Polizei Aufgehaltenen wird es ein langer Tag. Bei der Einfahrt nach Ufa ist wegen eines Feuerwehreinsatzes noch ein Stau zu ertragen. Wieder sind knapp 500 Kilometer abgeritten, die meisten davon auf unsäglichen Buckelpisten, die unser schwaches Fleisch weicher klopfen als alle Pisten zuvor. Am Abend fühlst du dich, als hätten sie dich einen ganzen Tag lang auf einen elektrischen Bullen geschnallt. Die Schultern sind verkrampft, der Rücken schmerzt, die Nackenmuskeln sind schon vor einer Stunde auf Block gegangen.
 
Am Stadtrand kündet eine gigantische, schwarze Rauchwolke von einer weiteren Umweltsauerei im fernen Russland. Ein Öllager soll brennen. Man muss in allem Schlechten das Gute erkennen: Immerhin ist das eine Wolke, die man sehen kann.