Mercedes F-Cell World Drive: Die Blutegel von Autopista sieben

Mercedes F-Cell World Drive
Die Blutegel von Autopista sieben

Veröffentlicht am 08.02.2011

Uups, Abfahrt verpasst. Eine Ausfahrt später stehen wir nun an einem von Frankreichs vier Millionen Kreisverkehren. Und nun? Eigentlich war es ein guter Plan, der eine dachte ihn, der andere sprach ihn aus: Nur wieder über die Autobahn zum Etappenziel, das ist doch langweilig. Stattdessen: ein Tässchen Kaffee, ein Kännchen Tee, ein bisschen Morgensonne und ein Schüsschen Meerblick, eine viel bessere Idee.

Ein Königreich für eine Straßenkarte

Da gibt es unweit von Perpignan das hübsche Örtchen Collioure, ein altes Fischerdorf, eingerahmt von Festung und Wehrkirche, schon Picasso hat hier gemalt. Nur wo ist es denn jetzt eigentlich? Besser die Landstraße nach Argèles oder die Schnellstraße zurück nach Perpignan? Wir entscheiden uns für Letztere und rollen wieder nach Norden. Wieder 20 Minuten später: Ortseingang Perpignan, kein Hinweisschild nach Collioure.
Unser Spezialnavigationsgerät Tripy weiß, dass wir uns abseits der Route befinden, wo wir hinwollen, weiß es nicht. Ein Königreich für eine Karte. Sie erinnern sich? Das sind diese bunten Dinger aus Papier mit roten und grünen und blauen Flecken, durchzogen von farbigen Linien. Man faltet sie auseinander, weiß, wo man ist, findet den Weg und kriegt sie nie wieder zusammengefaltet. Ach, war das schön damals. Aber in der rechten Seitentasche ist nur eine Warnweste, im Handschuhfach nur ein Steuergerät.

60 Kilometer für Nichts

Supernavigtor Stier braucht auf der nächsten Landstraße (nun wieder nach Süden) weitere zehn Minuten, bis er das Brett vorm Kopf entfernt hat. Wir haben ja noch ein ganz gewöhnliches, integriertes Navi-System, und das findet auch in einer Minute den Weg. Wären wir an diesem ersten, besagten Kreisverkehr der vermeintlich falschen Abfahrt einfach nach Osten gefahren, wir wären direkt vor die Festungsmauer von Collioure geklatscht. So sind wir im Zickzack auf und ab gefahren und haben 60 Kilometer für Nichts abgespult.

Nun gut, immerhin sind wir da und die Sonne und das Meer auch. Die etwa 3.000 Einwohner haben im Februar die meisten Bordsteine noch hochgeklappt, aber unten am Wasser hat eine Bar auf. Frisch gestärkt und frohen Mutes wird nun das eigentliche Etappenziel Barcelona anvisiert.

Das Telefon klingelt. Mission Control verfolgt uns mit dem E-Track-System über Satellit und will wissen, wo wir sind. Projektleiter Arved Niestroj hat nach einer - abgesehen vom ersten Tag - problemlosen Woche seine dunkle Kapuze gegen den in Australien erstandenen Strohhut eingetauscht, der ihm die ganze Zeit ein entspanntes "No Worries" unter die Schädeldecke flüstert. "Und, gute Fotos?" will er nur wissen.

"Fehlfunktion. Bitte Werkstatt ansteuern!" - Houston wir haben kein Problem

Dabei wäre eine gewisse Alarmstimmung durchaus angebracht, denn seit der ersten Viertelstunde erschien auf dem Display die Warnung: "Fehlfunktion. Bitte Werkstatt ansteuern!" Aber der Konvoi-Chef rät zum Ignorieren, und wir sind ganz bei ihm. Bei der ersten Mondlandung gab schließlich auch der Bordrechner Masteralarm. Buzz Aldrin hat die Warnung einfach weggedrückt, Neil Armstrong hat das Ding trotzdem sicher gelandet.

Ganz von ähnlicher Verwegenheit und Pioniergeist beseelt, passieren wir den östlichsten Gipfel der Pyrenäen, den schneebedeckten Pic du Canigou mit seinen 2.784 Metern und entern die Autobahn Richtung Spanien. Jetzt haben wir allerdings ein anderes Problem, aber davon muss Houston ja nichts wissen. Durch unsere Zickzack-Eskapaden haben wir schon soviel Wasserstoff verbraucht, dass der Bordrechner im günstigsten Fall eine Punktlandung vorsieht. Aber in Katalonien lauern ein paar lange Anstiege, zusammen mit den zwei Tonnen unserer B-Klasse Gift für den Verbrauch.

Warten auf ein Opfer - 38 Tonnen schwer, unbeladen

Das anfänglich schon moderate Autobahntempo von 110 führt auf Dauer zum vorzeitigen Stranden. Das wäre das Letzte: Kleine Abweichung vom Plan und schon stranden Stier und Bethscheider im Orbit. Also: Brennstoffzelle runter auf maximal 20 Kilowatt und warten auf ein Opfer. Schon kommt es von hinten angerollt, ein 38-Tonner, unbeladen und mit ordentlich Schwung.

Schwupps, hinten angesaugt und mitgezogen. Der Verbrauch, schon vorher mit 1,14 Kilo Wasserstoff auf 100 Kilometer, sinkt nach 20 Minuten auf 1,01 Kilo. Mit Tempo 90 verlaufen 200 Kilomter normalerweise quälend langsam. Nicht heute, wenn du ständig die verbleibende Reichweite des Bordcomputers und das Balkendiagramm mit dem Verbrauch der letzten 15 Minuten im Auge hast.

Gedenkminute hinter 3887 CMK

Der Laster fährt ab, wir lassen uns zurückfallen und suchen das nächste Opfer. Wir lauern wie die Zecken im Gras, wie Blutegel im Bach, immer bereit uns an das nächste Wirtstier zu kletten. Hinter 3887 CMK verbringen wir die nächste halbe Stunde. Wir halten eine Gedenkminute für all die armen Brummi-Fahrer ab, die ihr halbes Leben vor sich auf zwei weiße Türen starren und Firmennamen, Logos und Internetadressen des Vordermanns unauslöschlich auf die Festplatte gebrannt kriegen. Unsere Zugmaschine ist schlicht weiß, außer dem Kennzeichen gibt es nichts zu lesen.

Welch´ wohltuende Abwechslung, als wir hinter dem Autotransporter kleben, auf dem uns ein nagelneuer, silberner Peugeot 5008 mit dümmlichen Grinsen wie ein Hund vor dem Stöckchenwurf bei jeder Bodenwelle erwartungsfroh zunickt. Mit jedem Anstieg sinkt unser Mütchen, die Restreichweite schrumpft in Minuten in kritische Bereiche. Gebanntes Starren auf den nächsten Balken bei der Abfahrt. Bei den zahlreichen Straßenwechseln am Stadtrand von Barcelona steigt die Anspannung. Jetzt bloß nicht noch eine Abfahrt verpassen.

Neuer Langstreckerekord, ohne besondere Vorkommnisse

Immerhin, dank zahlloser Windschattenschlachten erreichen wir das Etappenziel mit nur 1,03 Kilogramm Durchschnittsverbrauch und knapp einem Pfund Wasserstoff im Tank, was für weitere 45 Kilometer gereicht hätte. Rund 290 Kilometer, das ist unfreiwillig der bisherige Langstreckenrekord. Mercedes-Forschungsvorstand Thomas Weber trifft uns zum Mittagessen. Keine besonderen Vorkommnisse, lassen wir lässig verlauten.