Visionäre verfügen über Eigenschaften, die andere Menschen an den Rand der Verzweiflung treiben können: Hartnäckigkeit oder Sturheit zum Beispiel. Jede Form von Widerspruch ist für sie wie ein Glockengeläut zum Gefecht. Sie haben klare Urteile, auch Vorurteile - aber ohne eine eindeutige Weltsicht könnten sie auch kaum Visionäre sein.
Stéphane Ratel ist zweifellos ein Visionär. Der Franzose bringt viele Menschen zur Verzweiflung, allen voran die Herstellervertreter, die er unablässig irritiert. Aus deren Sicht ist der 47-Jährige unbelehrbar. Sie würden wohl Helmut Schmidts beißende Einschätzung über den Visionär Willy Brandt zitieren: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."
Ratel bestimmt die Geschicke des internationalen GT-Rennsports
Das Gute an Visionären: Sie haben ein Ziel, und sie lassen sich nicht davon abbringen. Seit 16 Jahren bestimmt Ratel die Geschicke des internationalen GT-Rennsports als Promoter und Serienorganisator. Seine Firma SRO (Stéphane Ratel Organisation) richtet neun GT-Championate aus, in denen über 200 Rennwagen an den Start gehen. Er hat die moderne Klassenstruktur des GT-Sports mitgeprägt, und er hat sogar ganze Kategorien wie die GT3-Klasse selbst erfunden.
Bei allem Tun hatte er ein Ziel vor Augen: Eine GT-Serie mit WM-Prädikat. 2010 wird sein Traum Wirklichkeit. Am 17. April wird der Saisonauftakt der neuen GT-WM in Abu Dhabi stattfinden. "Ich arbeite für dieses Ziel 14 Stunden am Tag, und ich allein trage das finanzielle Risiko für das WM-Wagnis. In der Startaufstellung in Abu Dhabi werden wir sehen, ob ich alles richtig gemacht habe."
Der Vollgas-Promoter mit dem wehenden Haar fand seine Berufung spät. Ratel verbrachte einen Teil seiner Jugend in Kambodscha, wo der Vater als Offizier in der französischen Armee diente. Als die Roten Khmer die Macht übernahmen, kehrte die Ratel-Familie nach Paris zurück. Ratel Senior heuerte bei einem französischen Großkonzern als Manager an, ein gewisser Wohlstand kehrte ein. Ratel verbrachte seine Sommerferien in Biarritz und fröhnte den großen Hobbys seiner Jugend: Windsurfen und Skateboarden. 1980 schlug das Schicksal brutal zu: Ratel verlor seine Eltern und seine Schwester bei einem tragischen Unfall. Der Patenonkel nahm ihn unter seine Fittiche. Um dem trauernden Jungen ein wenig Freude zu spenden, erlaubte der Onkel den Kauf eines Autos: Ratel entschied sich für einen VW Golf GLi. „Ich hätte lieber einen Porsche 911 gekauft - aber das hätte mein Onkel wohl kaum erlaubt.“
Das Automobil trat mit Wucht in das Leben des jungen Stéphane Ratel. Er verschlang Automagazine und schraubte BBS-Räder an seinen Golf. Der schnieke VW bescherte ihm in seiner Studentenzeit in Paris den Ruf als reicher Sohnemann. Ein Jahr später tauschte er den Golf gegen den Wunsch-Porsche: „Der spätere FIA-Arzt Tropenat verkaufte mir einen 911 SC und nahm mich zu einem Treffen des Porsche-Clubs mit. Dort kam ich zum ersten Mal mit Menschen in Kontakt, die das schnelle Fahren in schönen Autos liebten.“ Von nun an steckte die Nadel im Arm von Stéphane Ratel. Kurze Zeit später besaß Ratel bereits einen Ferrari 275 GTB/4, den er dem Vater seiner Freundin abkaufte. Dem Patenonkel erklärte er, es würde sich um ein tolles Investment handeln. In der Tat stieg der Preis, Ratel machte einen guten Schnitt - und fortan baute er das Hobby zur geschäftlichen Goldmine aus. Von der Rendite aus dem Ferrari-Deal kaufte Ratel einen Lamborghini Countach, einen Ferrari 512 BB und einen Porsche RS.
Gebrauchtwagenhändler ist die beste Schule für das Motorsport-Geschäft
Mit sichtlichem Amüsement zitiert Ratel Bernie Ecclestone, der gesagt haben soll, sein potenzieller Nachfolger müsse auf jeden Fall ein ehemaliger Gebrauchtwagenhändler sein - denn das sei die beste Schule für das Motorsport-Geschäft. 1986 ging Ratel nach San Diego, um ein International-Business-Studium zu beginnen. Bereits der Tag der Ankunft in San Diego stand im Zeichen des Automobils: „Ein Freund schleppte mich zu einem Autohaus, dort stand ein toller Ferrari 512 BB, wie ich ihn gerade in Europa verkauft hatte - aber zum halben Preis!“ Ratel überriss das Schema der Wechselkurse schnell und begann, professionell mit Autos diesseits und jenseits des Atlantiks zu handeln. Er kaufte Autos auf Auktionen oder konfiszierte Sportwagen von der Drug Enforcement Agency, darunter einen weißen Lamborghini Countach mit weißem Lederinterieur - Miami Vice lässt grüßen.
Nach Abschluss des Studiums ging Ratel wieder nach Europa und eröffnete exklusive Ledergeschäfte in London und St. Tropez. Die Fashion-Industrie lag Ratel, der Dress-Code war leger, und lange Haare waren auch kein Hemmnis für Erfolg. Das Intermezzo dauerte drei Jahre, dann kam die Wirtschaftskrise von 1991, die die neureiche Londoner Klientel stark dezimierte. „Als dann auch noch der Irak-Krieg begann, verlor ich meine arabische Kundschaft. Am Ende hatte ich nur noch Elton John und seine Kumpel als Kunden. Als der Lead-Gitarrist von Def Leppard an einer Überdosis Rauschgift starb, habe ich die Läden wieder zugesperrt.“
Die Auszeit war von kurzer Dauer: Bei der Einweihungsfete nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1991 verabredete die illustre Feten-Mischpoke zu fortgeschrittener Stunde ein spontanes Auto-Wettrennen von Paris nach St. Tropez. Die 1070 Kilometer lange Hetzjagd auf öffentlichen Straßen absolvierte ein Lamborghini Countach-Pilot mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 207 km/h. „Ich war glücklich, dass alle ankamen, und ich war intelligent genug, so etwas nicht noch mal zu veranstalten“, so Ratel. Stattdessen ersann er die Idee, Wettkämpfe dieser Art auf die Rennstrecke zu verlegen - der Rennpromoter Stéphane Ratel war geboren.
Ratel hat eine Spielwiese für reiche Racer entdeckt
Sein erster Coup war die Venturi Trophy. 1991 präsentierte er den Plan einer Gentlemen Trophy im luxuriösen Badrutt‘s Palace Hotel in St. Moritz. An einem einzigen Abend verkaufte er 29 Rennautos. Bis zum Ende des Jahres stieg der Verkauf auf 55 Wagen. Ratel hatte eine Spielwiese für reiche Racer entdeckt, denn Äquivalente wie die Ferrari Challenge existierten damals noch nicht. 1992 veranstaltete Ratel ein Venturi-Rennen in Le Mans, die ACO-Bosse waren beeindruckt von der in den Nationalfarben der Teilnehmer lackierten Flotte von 55 Autos - und boten Ratel für 1993 Startplätze beim 24-Stunden-Rennen in Le Mans an. „Wir planten mit vier Autos, doch binnen weniger Wochen hatten wir sieben Wagen mit Fahrern besetzt“, erinnert sich Ratel. Weil der Fernsehmoderator Christophe Dechavanne ebenfalls am Start stand, wurde die Nummer in Frankreich ein gigantischer Publicity-Erfolg.
„Alle hatten mich gewarnt, dass die Venturis nach zwei Stunden in Le Mans verglühen würden - doch am Ende brachten wir fünf Autos ins Ziel“, so Ratel. „Durch den Erfolg der Venturi Trophy kam der Kontakt zu Promoter Patrick Peter zustande, der im historischen Motorsport aktiv war. Im Oktober 1993 traf ich mich mit Patrick Peter und Jürgen Barth im Restaurant Club 65 in St. Tropez - dort gründeten wir die BPR-Organisation, die 1994 die gleichnamige Rennserie für GT-Fahrzeuge organisierte.“ Zunächst starteten überwiegend reiche Amateure wie Ray Bellm in der Serie. McLaren, Ferrari und Porsche waren die dominierenden Marken der ersten Stunde.
Dann passierte etwas, das für Ratel wie ein Trauma wirkte: Der Sonnyboy des BPR-Triumvirats votierte für die Zulassung der GT1-Werksrennwagen von Porsche und Mercedes. „Einer meiner schwersten Fehler“, so Ratel heute. „Erst entstand ein kurzfristiger Hype, aber der zügellose Wettbewerb führte schnell zu immer stärker schrumpfenden Starterfeldern. Seither weiß ich: Im Motorsport kann man kein nachhaltiges Geschäft aufbauen, wenn man sich auf die Hersteller verlässt. Die kommen und gehen, wie es ihnen passt, weil sie andere Interessen haben. Für sie geht es um Marketing, für uns geht es um den Sport. Aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt.“ So ist die neue GT1-Serie eben keine Hersteller-WM wie alle anderen FIA-Weltmeisterschaften, sondern eine Team-WM. „Die Teams leben vom Rennsport, deshalb sind sie verlässliche Partner.“
Netz mit vier Hauptakteuren: FIA, ACO, Hersteller und Teams
Seit 1999 agiert Stéphane Ratel strikt nach dieser Devise, was die Herstellervertreter beizeiten an den Rand des Wahnsinns treibt. Der Franzose hört auf die Teams, denn die sind seine Kunden. Dazu hat er in den vergangenen zehn Jahren die Plattform für den WM-Titel klug gezimmert: FIA-Präsident Max Mosley galt als Förderer von Ratel und hat in einer seiner letzten Amtshandlungen den versprochenen WM-Titel durchgeboxt. Mosley und Ratel haben die heutige GT-Klassenstruktur (GT1, GT2, GT3, GT4) durchgesetzt, das Balance-of-Performance- System entwickelt und einen - allerdings höchst fragilen - Frieden mit dem Le Mans-Veranstalter ACO in Sachen GT-Reglement auf die Beine gestellt. Ratels Verdienste müssen umso höher bewertet werden, als er seine Etappenerfolge gegen enorme Widerstände durchsetzte. Er operiert in einem komplexen Netz mit vier Hauptakteuren: FIA, ACO, Hersteller und Teams.
Es bedarf viel Geschick und noch mehr politischer Gewieftheit, um in diesem Minenfeld etwas zu bewegen. Die einzigen natürlichen Verbündete von Ratel sind die Teams. Die Erfolge auf FIA-Ebene waren seinen guten Verbindungen zu Max Mosley geschuldet. Sein Nachfolger Jean Todt wird Ratel wohl auch weiterhin unterstützen. Mit den Landsleuten vom ACO unterhält Ratel geschäftlliche Verbindungen - er ist Anteilseigner der Le Mans-Serie. Man agiert nach der Devise: Wir tun uns nicht weh. Die Spielwiesen wurden in den vergangenen Jahren deutlicher abgegrenzt. Dazu hat der ACO als kleiner französischer Club seine ganz spezielle Vorgehensweise: „Die ACO-Leute haben ihren eigenen Kopf und hören halt auch nicht immer zu, was ich aber irgendwie schon wieder charmant finde. Sie agieren wie Diktatoren, während die FIA demokratisch organisiert ist, was es nicht immer leicht macht.“
Einer gegen den Rest der Welt
Oft angespannt ist Ratels Verhältnis zu den Herstellern, die es überhaupt nicht verkraften können, dass Ratel eine gewisse Deutungshoheit im GT-Getümmel hat. Ratel erschuf seine WM gegen den ausdrücklichen Wunsch der Hersteller. Einer gegen den Rest der Welt - so sieht sich der Franzose in den seltenen lakonischen Momenten gerne selber. „Widerspruch war für mich immer ein Ansporn. Wenn alle sagten, der Venturi-Auftritt in Le Mans sei zum Scheitern verurteilt, dann musste ich das Gegenteil beweisen. Und genauso soll es mit der GT-WM laufen!“ „Schöne Autos und Rennsport sind legale Drogen“, behauptet der mähnige GT-Zampano. Man darf davon ausgehen, dass der Franzose über genügend finanzielle Mittel verfügt, um sich den politischen Hickhack im GT-Sport zu ersparen - und einfach etwas anderes zu machen. Stattdessen kämpft Ratel seit 16 Jahren für seine Vision - mit enormer Zähigkeit und nimmermüdem Enthusiasmus.