Formel 1 gestern und heute: Die Siege der Mercedes-Silberpfeile

Formel 1 gestern und heute
Die Siege der Mercedes-Silberpfeile

Inhalt von
Veröffentlicht am 11.09.2012

Die Gemeinsamkeiten der beiden Sternstunden beschränken sich auf die Farbe Silber und ein paar statistische Kuriositäten. Zum Beispiel die, dass bei beiden F1-Rennen die erste Startreihe komplett von Mercedes besetzt war. In Monza wurde 1955 noch in Dreierreihen gestartet. Für Juan- Manuel Fangio und Stirling Moss wurden die Stromlinienkarrossen in die Startaufstellung gerollt. Karl Kling saß in einem Mercedes W196 mit offenen Rädern. Gastfahrer Piero Taruffi lauerte mit einem weiteren offenen W196 in der vierten Startreihe. Er eskortierte den großen Fangio beim Rennen mit 0,7 Sekunden Rückstand ins Ziel.
 
Die Mercedes AMGW03 von Nico Rosberg und Michael Schumacher waren bis auf Abstimmungsdetails absolut identisch. In beiden Fällen fiel die Hälfte der Mercedes-Streitmacht aus. Stirling Moss stoppte mit einem Motorschaden, Karl Kling mit einem Getriebedefekt. 57 Jahre später ist die Technik praktisch kugelsicher. Da machen die Menschen die Fehler. Bei Michael Schumachers erstem Boxenstopp wurde das rechte Vorderrad nicht richtig arretiert.

Die Mercedes-Siege fanden an zwei Orten statt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Autodrom von Monza ist eine Arena, die für Helden gebaut wurde. 1922 wurde sie eröffnet. Die Patina klebt an jedem Baum in diesem alten verwitterten Park. In Shanghai ist von Bäumen nichts zu sehen. Nur Fußballfeld große Auslaufzonen und ein monumental modernes Boxengebäude. Die 2004 fertiggestellte Strecke hat den Charme einer Industriebrache.
 
Monza präsentierte sich 1955 in neuem Layout. Zu dem bekannten Straßenkurs kam ein knapp vier Kilometer langes Oval mit zwei stark überhöhten Kurven. Miteinander kombiniert ergab sich eine Rundenlänge von 10,001 Kilometern. Die Zuschauer auf der Haupttribüne bekamen pro Runde doppelte Action geboten. Die Runde begann auf der Außenseite der alten Gerade vor den Boxen. Sie war durch eine Leitplanke in der Mitte geteilt. Wenn die Autos aus der Parabolica schossen, wurden sie automatisch auf die Innenbahn der Zielgeraden geführt. 300 Meter hinter den Boxen bog die erste Steilkurve in den Wald ab. Die zweite leitete die Autos wieder auf die Außenseite der Zielgeraden zurück.

Monza wäre zu gefährlich moderne F1

Es war ein Ritt auf der Kanonenkugel. Die alte Monza-Strecke fiele beim FIA-Check von A bis Z durch. Rosberg und Schumacher würden dort keinen Meter fahren. Nicht in ihren Kohlefaser-Panzern, und erst recht nicht in den Höllenmaschinen der grauen Vorzeit - ohne Karbon-Knautschzone, ohne Sicherheitsgurte, ohne Vollvisierhelm und HANS.

300 km/h aus 295 PS und 760 PS

Gut, der Mercedes W196 aus dem Jahr 1955 mobilisierte nur 295 PS aus einem 2,5-Liter-Reihenachtzylinder, und der jüngere Bruder hat 760 PS aus acht Zylindern im 90-Grad-V-Winkel unter seinem Kevlar-Maßanzug. Doch auch die Silberpfeile der Urzeit schafften in Monza-Übersetzung auf der Geraden 300 km/h. Und die Reifen waren Wagenräder mit einem Viertel der Auflagefläche. Mercedes fuhr gegen Ferrari, Maserati, Gordini und Vanwall. Nur Ferrari ist 57 Jahre später immer noch dabei. Die Gegner heute heißen McLaren, Red Bull und Lotus.
 
Auch vor 57 Jahren waren die Reifen das Thema, um das sich alles drehte. Es ging nicht um Gripabbau, Reifendrücke und Oberflächentemperaturen, sondern darum, ob sie 50 Runden lang den gewaltigen Kräften in den Steilwänden standhalten würden. Es gab ja keine Erfahrungswerte.
 
In Monza fuhr die Formel 1 zum ersten Mal im Oval. Die unruhige Fahrt auf den Betonplatten der bis zu 80 Prozent überhöhten Kurven mit einem Radius von 320 Metern war Gift für die Reifen. Nino Farina flog im Training spektakulär von der Piste, als sich die Lauffläche eines Reifens löste. Viele Autos setzten wegen der hohen Zentrifugalkräfte in den Kurven auf der Straße auf. Das erforderte eine völlig neue Abstimmung des Fahrwerks.
 
Fangio kam schließlich ohne Boxenstopp über die 500-Kilometer-Distanz. Nico Rosberg wechselte auf den 305 Kilometern bis ins Ziel zwei Mal die Reifen. Der Mercedes aus den 50er Jahren war mit Continental-Sohlen bestückt. 2012 sind Pirelli-Reifen Pflicht. Fangio gab die Führung nur ein einziges Mal ab. An Moss, der den Teamkapitän in der achten Runde für einen Umlauf an der Spitze ablöste. Nico Rosberg verlor Platz eins nur bei den Boxenstopps. Das lag an den unterschiedlichen Strategien der Spitzenteams. Rosberg stoppte zwei, seine Verfolger drei Mal. Die Rennen wiesen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Legt man die Rundentabellen übereinander, dann gab es hinter dem Sieger viel Bewegung im Feld. Wo heute DRS, Kers und abbauende Reifen Überholmanöver erleichtern, war es damals das Layout der Strecke. Monza lud zum Windschattenfahren ein.

Mercedes-Team militärisch gedrillt

Die Organisation im Mercedes-Team war 1955 das Maß aller Dinge. Rennleiter Alfred Neubauer hatte seinen Stab von rund 200 Mitarbeitern militärisch gedrillt. Die Boxentafel gibt es zwar immer noch, doch handgeschriebene Laufzettel sind einer Computerwand am Kommandostand und Großrechnern in der Fabrik gewichen. Die Silberpfeile der Vergangenheit wurden noch in Stuttgart konzipiert und gebaut. Nico Rosbergs Siegerauto entstand im englischen Brackley und Brixworth. Technikdirektor Rudolf Uhlenhaut war der Adrian Newey seiner Zeit. Er konnte nur besser Auto fahren. Uhlenhaut klemmte sich manchmal selbst hinter das Steuer der Formel 1-Autos und war dabei kaum langsamer als die Stammpiloten. Die Uhlenhauts der Neuzeit heißen Bob Bell, Geoff Willis, Aldo Costa, John Owen und Russell Cooley. Man gönnt sich mit Ross Brawn und Norbert Haug sogar eine Doppelspitze. 1955 war das Wort von Alfred Neubauer Gesetz.
 
Mercedes feierte in Monza den fünften Sieg beim sechsten Start der Saison 1955. Juan-Manuel Fangio kürte sich gleichzeitig zum dritten Mal als Weltmeister. Davon ist Nico Rosberg noch etwas entfernt. Michael Schumacher dagegen hat Fangios Rekorde längst alle getilgt. Ein Sieg für Mercedes wäre die Krönung seiner unvergleichlichen Karriere. Schumacher ist mit 43 Jahren der Methusalem der aktuellen Formel 1. Fangio war bei seinem Monza-Sieg bereits ein Jahr älter. In der Ära der Staubkappenfahrer sahen die Rennfahrer ein bisschen anders aus. Es waren kräftige, ältere Männer mit schütterem Haar. Die Hose wurde nicht vom Gürtel, sondern vom Bauchansatz gehalten. Man fuhr im Polohemd und in Straßenschuhen. Von Werbung keine Spur. Rosberg und Schumacher sind Modellathleten. Sie werden in feuerfeste Overalls gesteckt. Die Dienstuniform ist vom Schuh bis zum Helm eine Spezialanfertigung, ebenso auf Minimalgewicht getrimmt wie der Rennwagen.
 
Auch bei der Siegerehrung haben sich die Bräuche geändert. Juan-Manuel Fangio bekam in Monza einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt. Nico Rosberg wurde mit einem Pokal und einer Magnum-Champagnerflasche belohnt. Für Fangio war es der 16. Sieg beim 34. GP-Start. Rosberg feierte Premiere. Er brauchte dafür 111 Anläufe. Nur vier Fahrer haben sich länger Zeit gelassen.