Zuerst hupt er nur. Aber kurz erschreckt und vom Gas gegangen, hat der Gaststarter schon entscheidend an Höhe verloren. Sofort zieht der unscheinbare weiße Peugeot 106 längsseits. Am Steuer ein zigfach gegerbtes Männlein, hager und grimmig. Die Lippen zu Strichen gepresst, schüttelt er den Kopf. Dann lenkt er ein bisschen nach links, um die Falle endgültig zuschnappen zu lassen.
Erlebnis Verkehr in Paris
Was schwärmen die Leute immer vom Champs-Élysées und dem Place de l’Étoile mit dem Triumphbogen – solange sie dort nicht Auto fahren müssen. Viele gute Freunde waren neidisch auf diese Weltreise und hätten gern getauscht, aber einige hätten sich auch nicht für Geld in Paris ans Steuer eines Autos gesetzt und lieber ab der Mercedes-Vertretung in Wissous den Bus genommen.
Straßenverkehr in Paris, das ist eine Mischung aus Segeln und Karate, ein Vollkontaktsport ohne feste Regeln. Kurz gesagt: Mit einer alten Karre ein Heidenspaß. Der französische Stadt-Guerillero baut auf seinen Heimvorteil. Er kann zumindest immer vorgeben, sich besser auszukennen, er beherrscht die angesagten Flüche in der Landessprache viel besser, er ist aggressiv, hat es immer eiliger als alle anderen und macht rücksichtslos Gebrauch von Gaspedal und Hupe.
Vorsicht vor Pariser Damen
Zu derartigem Gehabe lässt sich die Pariserin natürlich nicht hinreißen. Sie ist die weitaus gefährlichere Kombattantin, weil schwer auszurechnen. Die brünette Mähne mit blonden Strähnchen hübsch auftoupiert, darunter die teure Ray Ban-Sonnenbrille, damit der Gegner nicht in die Augen sehen kann. Ohnehin sieht sie nie zur Seite sondern stur geradeaus. Wie weit wird sie gehen? Am Handgelenk schimmern Klunker, aber im gespitzten Mund steckt eine Gauloises. Die soll signalisieren: Ich komme aus einer bretonischen Hafenarbeiterfamilie, habe vier achtkantige, große Brüder und bin selbst innerlich durchtätowiert. Komm mir bloß nicht dumm, Kleiner.
Ach, was war das schön beschaulich, als wir im Morgengrauen bei sanftem Nebelschleier und hübschem Raureif auf den Feldern über die geschwungenen Hügel der Champagne rollten. Niemand blieb heute liegen, alle waren im Flow. Die Chinesen fotografierten den Sonnenaufgang, die Amerikaner schwärmten: "Schau mal, das sieht doch aus wie in diesen schönen, kleinen Dörfern in Frankreich." Worauf sie sofort in Gelächter ausbrachen und sich vorkamen wie diese ewig tourenden Rockbands, denen jemand hinten auf die Gitarre einen Aufkleber mit "Pittsburgh" gepappt hat, damit nicht wieder einer "Hello Cleveland" von der Bühne brüllt. Ansonsten floss der Verkehr ruhig auf der D27 von Thillois nach Gueux.
Geschichtsträchtiger Formel 1-Boden
Was dann doch für Aufregung sorgte, waren die bunt bemalten Ruinen beidseits der Straße. Die ist nämlich geschichtsgetränkter Boden. 1926 lieferten sich die Franzosen auf dieser Route heftige Windschattenschlachten bei einem der ersten und schnellsten Autorennen. Außer den drei Winkeln, um ein Dreieck zu bilden, hatte die Rennstrecke von Reims eigentlich nur Geraden. 1950 zählte sie zum ersten Kalender in der Geschichte der Formel-1-Weltmeisterschaft. Aber wie Zirkusse so sind: Sie ziehen weiter. Seit 1966 international bedeutungslos, ging langsam auch das Geld aus. Seit 1972 rollt nur noch der normale Verkehr an der maroden Haupttribüne entlang. Viele Streckenteile sind komplett abgetragen.
Aber der trutzige Rennleitungsturm zeigt noch in den Himmel, wo jetzt der große Juan Manuel Fangio wohnt, der im Juli 1954 mit einem 200er Schnitt alle hinter sich ließ und nach 14 Jahren Pause das Comeback der Mercedes-Silberpfeile einläutete.
Und mit dem Geiste Fangios im Gepäck heißt es heute: Nicht kneifen. Mag der ledergesichtige Pariser auch die Zähne blecken, es wird nicht nachgegeben. Die Lokalmatadoren unterschätzen unsere B-Klasse . Ein Familienauto mit alternativem Antrieb, vermutlich irgendso ein schräger Öko-Aleman mit Bart am Steuer, aber sie rechnen nicht mit dem starken Antritt des Elektromotors.
Fahrspurschlacht im Kreisverkehr
290 Newtonmeter, das hätte der Clio schon gut brauchen können, der jetzt von einem Range Rover gerammt die Innenbahn des gigantischen Kreisverkehrs Richtung Place de la Concorde blockiert. Das fröhliche Grün der Mercedes B-Klasse ist durchaus auch als schrille Warnfarbe zu betrachten. Oh ha, jetzt droht er mit der Faust und lenkt wieder nach links. Wir haben leider die schlechtere Bahn. Wir müssten uns nach rechts tragen lassen, aber da blockiert der Peugeot den Weg, gleichzeitig drückt er uns immer näher an den Kantstein des Triumphbogen-Rondells. Ledergesicht weiß auch ganz genau, dass unser Schaden teurer sein wird als seiner. Wir brauchen unser Auto ja noch 123 Tage, also doch besser nachgeben.
Immerhin. Bei insgesamt neun Runden Nahkampf rund um den Triumphbogen kann sich ein einziges verlorenes Duell durchaus sehen lassen. Der Wasserstofftank ist immer noch zu drei Vierteln voll. Triumphal rollen wir Richtung Seine. Der Eifelturm soll bei diesem fahlen Winter-Sonnenlicht auch ganz schön sein.