"Ich hätte an diesem Wochenende gerne mehr Klarheit darüber, wer in der LMP1-Klasse wo steht", sagt Porsche-Teamchef Andreas Seidl. "Aber es steht zu befürchten, dass das unter Umständen nicht passiert."
Der Grund für die Skepsis ist berechtigt: das britische Frühjahrswetter könnte die Performance-Überprüfung beim Saisonauftakt massiv vereiteln: für das samstägliche Qualifying, auf dessen Basis man den rohen Speed der LMP1-Autos am besten einschätzen könnte, sind Temperaturen unter 5°C angesagt, dazu Sturmböen - und Schneeschauer! Für das Rennen am Sonntag liegt die Regenwahrscheinlichkeit bei 50 Prozent.
Porsche als Favorit in Silverstone
Es könnte also schwierig werden mit der ersten Bestandsaufnahme in der LMP1-Klasse. Beim Saisonvortest der Sportwagen-WM in Le Castellet Ende März haben wir gelernt, dass Porsche weiterhin schnell ist, obwohl sie prinzipiell mit dem bewährten 919 Hybrid aus dem Vorjahr antreten.
Andererseits wurde aber bei Porsche jedes Bauteil auf sein Verbesserungspotenzial überprüft - und in den meisten Fällen auch modifiziert. Der LMP1-Porsche ist also alles andere als ein fundamental benachteiligtes LMP1-Altauto. Aber als "Altauto" dürfte es bei der Zuverlässigkeit top sortiert sein.
Das trifft auf die Gegner Audi und Toyota so nicht zu: beide vollzogen für 2016 einen radikalen Konzeptwechsel. Toyota designte ein neues Chassis mit neuen Aufhängungen und neuem Aero-Konzept, dazu wechselte man vom V8-Sauger auf ein 2,4-Liter-V6-Biturbo-Aggregat. Das Hybridsystem wurde von 6 auf 8 MJ gepimpt.
Zwar wurde das Auto ausführlich getestet, doch der neue Motor ist erst seit Ende Februar an Bord. "Wir haben noch Haltbarkeitsthemen", gibt Toyota-Technikdirektor Pascal Vasselon zu, "aber es werden von Test zu Test weniger."
Audi radikal neu, aber auch zuverlässig?
Die geringste Anzahl an Testkilometer hat Audi: bis vor dem WM-Saisonvortest waren es gerade mal 5.000 bis 6.000 - Toyota kam auf 22.000, Porsche auf 23.000 Testkilometer. Auch Audi ließ beim neuen R18 keinen Stein auf dem anderen: nur der Dieselmotor ist eine optimierte Übernahme aus 2015, der Rest ist brandneu und ziemlich radikal.
Mit dem neuen Aero-Konzept begeben sich die Ingenieure auf Formel 1-Niveau. Dazu ein Wechsel von 4 auf 6 MJ Hybridleistung, die nun in Batterien statt in einem Schwungmassenspeicher gespeichert wird. Auch beim Fahrwerk ging man den aufwendigsten und komplexesten Weg: ein Hub-Wank-System erlaubt es, Roll- und Pitch-Phänomene separiert zu justieren. Obendrauf kommt ein FRIC-Fahrwerk (Front Rear Interconnected), dass die Aero-Plattform bei fast allen Fahrmanövern stabil hält.
Doch für die hohe Komplexität zahlte Audi in der Testphase auch einen hohen Preis: Defekte sorgten für Zeitverzug, ergo liegt man bei den Testkilometern hinten. Was den Speed betrifft, so schien zwar Porsche beim Saisonvortest die Nase vorne zu haben, doch Toyota und Audi sind nicht so weit weg - und deren Steigerungsrate wird vom Potenzial her höher sein, als die bei Porsche mit dem alten Auto.
"Das erste Saisondrittel könnte Porsche gehören, weil sie aussortiert sind, aber danach müssten eigentlich die neuen Autos von Toyota und Audi immer stärker werden", orakelt ein LMP1-Insider. Bekommen wir am kommenden Wochenende (Rennstart am Sonntag um 13.00 Uhr MEZ-Zeit) eine erste Antwort auf die offenen Fragen in der LMP1-Klasse? Nur dann, wenn auch das Wetter mitspielt…