Sollte es irgendein Signal gegeben haben, dann blieb es ungehört. Ein Jingle, ein Pling, ein Plopp, ein Gong vielleicht, was auch immer. Jetzt fließt es jedenfalls. Auf einmal. Er fließt. Also der Aston Martin Vantage GT4. Seit dem Streckenabschnitt Hohe Acht. Bereits mit Schwung oben angekommen, optimal eingelenkt, frühestmöglich ans Gas, den Achtzylinder-Biturbo gleich wieder fordern, zeitig in den Fünften hochschalten, das maximale Drehmoment nutzen. Hedwigshöhe, kurz angebremst, umgesetzt in die Links in Richtung Wippermann, in der Rechts den Curb ausgelassen, durch die Kompression, schnell gelöst, in Richtung Eschbach leicht über die Rattersteine links, dann runter zum Brünnchen, ein Lenkwinkel, unten dann unmittelbar nach der kleinen Welle das Auto umgesetzt, raustreiben lassen bis an die Curbs. Alles ganz leicht, alles ganz selbstverständlich. Du merkst es. Überall, vor allem im Hintern, der samt Rücken per Fünfpunktgurt in der engen Sitzschale festgeschnallt noch immer als bester aller Sensoren funktioniert. Und alles schnell.
Wer ist hier der Wahnsinnige?

Findet zumindest Jules. Der sitzt auf dem Beifahrersitz. In einem Rennwagen. Jules Szymkowiak wirkt dabei erstaunlich entspannt, zumindest soweit sich das aus seinen Kommentaren, die über die in die Helme integrierte Gegensprechanlage herüberschwappen, ableiten lässt. Bemerkenswert. Als ob der Rennfahrer an sich nicht schon zu den Risikoberufsgruppen gehörte. Wozu zählt dann der Rennfahrer-Instruktor? Setzt sich neben einen ihm unbekannten Typen, von dem eigentlich nur bekannt ist, dass er einen gültigen Führerschein besitzt. Im Extremfall. „Ich merke auf den ersten Metern, wer da am Lenkrad dreht“, sagt der 23-jährige Profi aus den Niederlanden. Ob es dann nicht vielleicht schon zu spät sein könnte? Sei noch nicht passiert. Zumal Jules ohnehin seinen Kunden eindringlich empfiehlt, es langsam angehen zu lassen. Man habe ja Zeit. So wie heute. Einen ganzen Tag auf der Nordschleife. Eine Ausbildung zum Rennfahrer sozusagen. Nein, nicht wirklich. Eher eine berufliche Weiterbildung.
Und die Fortsetzung einer Geschichte. Denn die Nordschleife und ein Aston Martin brachten mich bereits an meine Grenzen. Beim 24-Stunden-Rennen 2018. Ich würde es ihnen gerne heimzahlen, eines Tages. Doch auch für alle, die keine Rechnung mit irgendwem oder irgendwas offenhaben, bietet Aston Martin ebenso wie andere Sportwagenhersteller entsprechende Trainingsprogramme an. Je nach Vorkenntnis steigen die Schüler erst einmal in ein Straßenfahrzeug ein, später in einen Rennwagen, in verschiedenen Kursstufen – oder in individuellen Trainingssitzungen.
Sitzen, ach ja. Eiskurve. Die hätte ich schon von Beginn an super getroffen, findet Jules. Den Ausgang des Adenauer Forsts übrigens nicht so, sagte er vor ein paar Kilometern. Müsse länger links bleiben, um dann in der letzten Rechtskurve früher und kräftiger den Hahn wieder aufzumachen. Jetzt Volllast, fordert der Bursche. Der Aston setzt sich am Eingang zum Abschnitt Pflanzgarten in die Federn, fünfter Gang, Anflug auf die erste Sprungkuppe, davor kurz bremsen, lösen, noch mal ganz kurz bremsen, vierter Gang, einlenken, lange rechts bleiben, umsetzen, Gas, fünfter Gang, über die nächste Kuppe. Findet Jules „sportlich“. Im absolut positiven Sinn. Behauptet er. Wieder kein Gong, kein Tusch, keine Fanfare. Schade.
Dafür leuchtet während des Tiefflugs durchs Bellof-S im zentralen Monitor des nackten Vantage-Cockpits ein roter Pfeil auf, der auf einen herannahenden Lamborghini Huracán GT3 deutet. Die Farbe Rot bedeutet: Sieh zu, dass du Land gewinnst, der ist schneller. Ha ha, guck mal, der Aston hat ja eine Einparkhilfe, wie praktisch, witzelte ich heute Morgen noch. Techniker Mario, der den GT4 betreut, lachte: „Ja klar!“ Und ergänzt: „Kein Scherz.“ Tatsächlich überwacht ein Kamerasystem den herannahenden Verkehr, errechnet das Tempo, gleicht es mit dem des eigenen Fahrzeugs ab und kennzeichnet den Verfolger. Gelb bedeutet: Kommt näher. Rot: siehe oben. Grün: Hast du selbst gerade überholt. Könnte mancher im öffentlichen Straßenverkehr gut gebrauchen.
Na, und beim Einparken hilft das System auch. Jetzt an der T13, jener Tribüne, vor der sich die Nordschleife bei Rennen üblicherweise in Richtung GP-Strecke verabschiedet – und die Meute von dort wieder in Empfang nimmt, kurz bevor sie sich Richtung Hatzenbach abwärtswindet. Pause. Einparken. Aus der Umklammerung des Aston lösen. Aus der Bordelektronik purzeln Fahrzeugdaten und Videos auf einen Laptop, Jules startet die letzte Runde auf dem Bildschirm, kommentiert, analysiert. In einer für einen Laien durchaus fassbaren Menge. Keine Überdosis. Es folgen noch weitere Stopps sowie die ausführliche Analyse am Ende des Tages bei Aston Martin Racing im nahen Industriegebiet. „Auf 90 Prozent zu kommen, geht vergleichsweise leicht“, erklärt Jules, „da bist du sowieso schon drüber.“ Immerhin, danke. „Und dann wird’s eben hart.“
Ich solle dem Auto mehr vertrauen, ruhig hier (Aremberg) und da (Steilstrecke) später bremsen, aber auch an dieser (Wehrseifen) oder jener Kurve (die enge Links im Adenauer Forst) das Auto eine Idee länger rollen lassen, um dann aggressiver attackieren zu können. Na dann: starten statt warten. Jugendlich unbekümmert schwingt sich Jules auf seinen Sitz, legt seine Beine auf einer Holzplatte ab, unter der ein erheblicher Teil der Bordelektronik wohnt. Als GT4 sieht der Vantage eigentlich keinen Beifahrer vor, natürlich. Die Startprozedur verläuft maximal einfach, Hauptschalter in der Mittelkonsole zwei Klicks nach unten, kleinen grünen Startknopf am Lenkrad drücken, dann zürnt das rund 430 PS starke Triebwerk gurgelnd vor sich hin. Mit dem rechten Lenkradpaddel den ersten des um zwei Gänge gekappten Automatikgetriebes einlegen – und ab dafür. Auch herab, denn aus der T13 heraus stürzt sich die Strecke gleich in die Hatzenbach. Jules findet es mutig, am Kilometer-2-Schild nur zu lupfen, jubelt aber zugleich über den fantastischen Grip an der Vorderachse. Was im Vergleich mit dem Vorgänger noch mehr überrascht: Das aggressive Einlenkverhalten des GT4. Speziell in engen Ecken biegst du gerne mal eine Idee zu früh ab. So wie jetzt im Adenauer Forst. Woran sich Jules weniger stört. „Lass das mit dem Schleppgas“, mault er.
Weisheitszahn ziehen lassen

Während der Aston Martin in Richtung Metzgesfeld auf über 200 km/h beschleunigt, referiert der Trainer: „Wenn du in Kurven mit engem Radius mit Schleppgas unterwegs bist, bekommst du das Auto nicht richtig ums Eck. Da arbeitet das Sperrdifferenzial. Bei großem Lenkwinkel kommst du ins Untersteuern, weil du zu viel Traktion hinten hast. In schnellen Kurven sieht das anders aus.“ Am Flugplatz beispielsweise, dort, wo in der nächsten Runde der Mut abhebt, bei knapp 170 km/h das Heck doch eine Idee weiter nach außen drängt als beabsichtigt. Eine Situation, die du nicht haben willst, mit der du aber klarkommen musst. So wie Weisheitszahnziehen beispielsweise. Da hilft die Einnahme von Entzündungshemmern, jetzt gerade nur die minimale Gaswegnahme, leichte Lenkkorrektur. Dann aber: Vollgas weiter. Nicht weiter darüber nachdenken.
Nachdenken, eine Begleiterscheinung fortschreitenden Alters. Nicht unbedingt von Vorteil auf einer Rennstrecke. Tatsächlich findet sich Sekunde um Sekunde, Jules Tipps ankern schnell im großen Steuergerät zwischen den Ohren. Bei der Datenauswertung im feudalen Testcenter der Briten zeigen die Kurven reichlich humorlos Fehler, ebenso das, was eigentlich zu bejubeln wäre. Kein Jingle, kein Gong, kein Tusch, nichts. „Du bist schon schnell“, resümiert Jules trocken, „arbeite an deiner Bremstechnik. Der Druck stimmt, aber du musst gleichmäßiger vom Pedal gehen.“
Der Rennfahrer malt Kurven auf, referiert über das richtige Gefühl, über die Schwierigkeit, das zu trainieren. Die Kurven auf dem Monitor verschwimmen, die mentale CPU arbeitet sich der Belastungsgrenze entgegen. „Denk einfach daran: Slow in, fast out. So kannst du mehr Schwung in die nächste Kurve mitnehmen“, schiebt Jules noch nach. Jingle, Tusch, Gong: Besser bremsen, langsamer fahren. Als Erkenntnis eines Rennfahrertrainings überrascht dieses Fazit dann doch.