Rallye-WM (WRC) 2016: Die große Halbzeitbilanz

Rallye-WM (WRC) 2016
Die große Halbzeitbilanz

Veröffentlicht am 27.07.2016

Wenn Rallye-Werksteams auf dem Fahrermarkt nur kurze Streichhölzer gezogen haben oder die Technikabteilung ein neues Auto aus dem Hut zaubern muss, dann reden die Teamchefs gern von einem Übergangsjahr. Die Ansage nimmt Druck von der eigenen Truppe und wird als Entschuldigungsjoker zur Senkung der Erwartungshaltung von Fans, Medien und Konzernvorständen immer wieder mal gern gezogen. Das Rallye-Jahr 2017 allerdings wird in die Geschichte eingehen als die Saison, in der sich sämtliche Werksmannschaften in einer Übergangsphase sehen. Bei allen hat die Saison 2017 oberste Priorität – schließlich gibt es ein neues Reglement. In historisch einmaliger Einigkeit haben Sportverband, WM-Vermarkter und Sportchefs spektakuläre Autos und großartige Zeiten versprochen – und der erste Schuss soll sitzen.

VW trotz Budgeteinbußen weiter die Nummer eins

Zuvor muss man aber die Saison 2016 noch mit Anstand über die Bühne bringen. Das tut keine Mannschaft mit dieser Konsequenz wie Weltmeister VW. Vier Siege, vier zweite Plätze, Tabellenführung und 61 Punkte Vorsprung in der Markenwertung – mit preußischer Gründlichkeit arbeitet die Truppe aus Hannover trotz Budgeteinbußen von 20 Prozent gewohnt erfolgreich weiter. Die Fahrer testen seit Anbruch des Frühjahrs nur noch das 2017er-Auto, Weiterentwicklung am aktuellen hat es keine gegeben. Wozu auch? Der VW Polo WRC war bisher schon dominant.

Aber die Einschläge kommen näher. Besonders Hyundai ist dem Rallye-Weltmeister auf die Pelle gerückt. Allen Unkenrufen zum Trotz: Topfahrer Neuville in der Krise, die Entwicklung des 2016er-Hyundai i30 erheblich verspätet, seit einem Jahr kein Technikdirektor mehr an Bord. Vor dem Saisonstart in Monte Carlo winkten viele Experten schon ab. Tatsächlich leidet die Mannschaft von Teamchef Michel Nandan noch immer an Erfahrungsmangel und scheitert an unnötigen Kinderkrankheiten. In Monte Carlo klagten die Fahrer trotz ausgiebiger Tests zwei Tage lang über Abstimmungsprobleme. Aber schon in Schweden zeigte die Mannschaft aus Alzenau, dass der i20 kein Flop ist.

Junior Hayden Paddon zwang Weltmeister Ogier zu erheblichen Klimmzügen. Nach der Rallye führten die Koreaner gar zum ersten Mal in der Rallye-Geschichte das Championat an. Aber eine Strafe wegen einer unbeabsichtigten Überziehung des Reifenkontingents, spinnende Sensoren in Argentinien, ein wegen Spritmangel gestrandetes Auto in Portugal und wegen einer Fertigungspanne zu dünne Seitenscheiben auf Sardinien zeigen, dass es im dritten Jahr seit dem WM-Einstieg immer noch ein bisschen im Getriebe knirscht. Zudem hat Nandan Pech mit den Fahrernominierungen. Nur in Monte Carlo und zuletzt in Polen lieferten beide für die Marken-WM nominierte Fahrer ordentlich Punkte ab, ansonsten flog immer einer der Piloten von der Straße.

Alles läuft für Ogier

Von solchen Missgeschicken profitierte in der ersten Saisonhälfte niemand mehr als der Weltmeister. Durch einen Austritt in einen Graben nahm sich WM-Vize und Teamkollege Jari-Matti Latvala schon in Monte Carlo aus dem Rennen um den Titel. Für einen Differenzialschaden in Schweden konnte der Finne nichts, aber außer einem dank perfekter Streckenposition eingefahrenen Erfolg in Mexiko hat VW’s Nummer zwei in dieser Saison wenig gezeigt. Mit 72 Zählern hat der WM-Vierte lediglich halb so viele Punkte geholt wie Ogier (143). Der bei den ersten beiden Läufen noch emsig punktende Andreas Mikkelsen verlor im dritten Werks-Polo den Anschluss an Ogier durch einen Unfall beim dritten Lauf in Mexiko. Mit einem grandiosen Sieg in einem Herzschlagfinale in Argentinien schien sich Hayden Paddon zum neuen Ogier-Herausforderer aufzuschwingen, aber anschließend warf sich der Neuseeländer gleich zweimal nachhaltig ins Unterholz. Mit null Punkten in Portugal und Italien fiel er auf WM-Rang drei zurück.

Durch Fehler und Defekte kassierte Hyundais Nummer eins gleich drei Nullnummern, insofern ist Thierry Neuvilles Erfolg auf Sardinien allenfalls Kosmetik in der Tabelle. Aber wie schon eingangs erwähnt: Es geht eigentlich schon um 2017, und so ist es für viele Fahrer vor allem wichtig, Selbstvertrauen für die deutlich schnelleren Autos und einen Kampf von fünf Werken im kommenden Jahr aufzubauen. Neuville galt bei Hyundai schon zweimal als nahezu ausgemustert, aber die Souveränität, wie er auf Sardinien davonzog und nervenstark Gegner Latvala in Schach hielt, nötigte auch Kritikern Respekt ab.

In Polen verlor er den dritten Rang im teaminternen Duell gegen Paddon nur um acht Zehntelsekunden, ein gebrochener Schalthebel hatte ihn anfangs wertvolle Sekunden gekostet. Mit breiter Brust präsentiert sich auch einer, der gar nicht um den Titel kämpft. Citroën hat das Thema Übergang konsequenter umgesetzt als alle anderen: Die Franzosen treten nur sporadisch an, bekommen keine Marken-Punkte und konzentrieren sich voll auf die Entwicklung des neuen C3. Kris Meeke, drei Jahre als ewiger Wackelkandidat unterwegs, schien sein Image als Bruchpilot mit Fahrfehlern in Monte Carlo und Schweden zu bestätigen. Aber ein Dreijahresvertrag bei Citroën und seine Rolle als Entwicklungsfahrer bei den Franzosen haben ihn wachsen lassen. Bei seinem dritten Einsatz in Portugal profitierte er zwar von seinem Startplatz weit hinten, setzte seinen Vorteil aber auch gnadenlos gut um und bestätigte, dass sein Argentinien-Sieg 2015 keine Eintagsfliege war.

Zorniger Champion

Aber gerade Kris Meekes Erfolg in Portugal entzündete den Zorn des Weltmeisters. Einen Tag als Straßenfeger, wie zuvor üblich, konnte der schnellste Autofahrer der Welt bisher durchaus kompensieren, doch seit diesem Jahr muss Sébastien Ogier bei den Schotter-Rallyes gleich zwei Tage lang die Piste für die Verfolger fegen. Nicht zuletzt durch den Umstand, dass gemäß den Wünschen von FIA und Promoter am Sonntag meist nur noch um die 60 Kilometer zurückgelegt werden, ist das ein nicht zu kompensierender Nachteil. Ogier gewann wie gewohnt in Monte Carlo, profitierte in Schweden von Latvalas Pech – aber seitdem hat er keine Rallye mehr gewonnen.

Schon im Vorjahr stimmte er regelmäßiges Wehklagen an über die Benachteiligung, 2016 schwankt er zwischen stiller Tapferkeit und zischendem Zorn. In Polen, dem letzten Lauf vor der Sommerpause, kombinierte er beide Varianten und trat am Samstagabend in den Interview-Streik. Der Champion weiß, dass er sich mit seinem Lamento keine Freunde schafft, aber auch der Konkurrenz schwant, dass man sich mit dem extremen Einbremsen des Besten langfristig keinen Gefallen tut. „Wenn einer ständig jammert, ist das nicht gut für das Image der WM“, gesteht Citroën-Sportchef Yves Matton. Hyundai-Teamchef Nandan räumt ein: „Vielleicht war diese Regel ein bisschen zu viel des Guten.“

FIA-Rallye-Präsident Jarmo Mahonen wollte die erste Saisonhälfte abwarten, bevor er für die Septembersitzung des FIA-Weltrats einen möglichen Änderungsvorschlag einreicht. In der Woche nach der Polen-Rallye trafen sich die Herstellervertreter mit dem WM-Vermarkter Oliver Ciesla, um Kriegsrat zu halten. Dass der überragende Ogier in Polen trotz fehlerfreier Fahrt nur Sechster wurde, gilt vielen als Beweis für die Krankhaftigkeit der Regeln. Die andere Fraktion verweist darauf, dass Ogier in der Tabelle schon wieder weit enteilt ist, und die Saison 2016 so bunt sei wie schon lange nicht.

Unterschiedliche Sieger 2016

Sechs verschiedeneSieger bei den ersten sieben Läufen – das gab es in der WM-Historie nur ein halbes Dutzend Mal, zuletzt 1994. Von vier vertretenen Marken haben bisher drei gewonnen, und um ein Haar wären es vier gewesen. Das M-Sport-Team hat seit dem Rückzug von Ford im Herbst 2012 keine Rallye mehr gewonnen. Mit Kundengeschäft und schmalem Budget hält Teamchef Malcolm Wilson seine Ford Fiesta im Geschäft. Zuletzt unternahm man mit einem selbst entwickelten Motor und neuen Differenzialen im Frühjahr 2015 technische Klimmzüge, in der aktuellen Saison konzentriert sich die Mannschaft aus Cumbria voll auf das kommende Jahr.

Frische Teile werden nicht mehr produziert, nur noch die Lagerbestände aufgebraucht. Nach dem nächsten Lauf in Finnland wird es keine Tests mit dem 2016er-Auto mehr geben. Mit Übergangsjahren hat kein Team mehr Erfahrung als M-Sport. Schon zu offiziellen Ford-Zeiten war das Geld knapp, vor allem für die Gehälter von Topfahrern. Kein Team hat mehr junge Fahrer ausprobiert und ausgebildet als M-Sport. Elfyn Evans soll nach einer durchwachsenen Saison 2015 WRC2-Weltmeister werden und dann ins WRC-Team zurückkehren. Der Franzose Eric Camilli leistete sich im Fiesta WRC ein paar unnötige Ausritte, kommt aber zur Freude seines Teamchefs Wilson langsam in die Spur.

Das Rätsel Östberg

Nur der eigentliche Topfahrer ist ein Rätsel. Mads Östberg hat einen WM-Sieg auf dem Konto, ist gewöhnlich ein Muster an Konstanz und bringt die Erfahrung von 97 WM-Starts in zehn Jahren mit. Aber zuletzt war selbst Neuling Camilli schneller. Drei Rallyes klagte Östberg über zu wenig Motorleistung. Tatsächlich hatten ihm die Techniker in Mexiko versehentlich die Software für den Vorjahresmotor eingebaut, aber ansonsten fanden die Ingenieure in den Daten nichts. In Portugal beschwerte sich der Norweger über Schaltprobleme, danach programmierte man ihm die Getriebesteuerung um. Es half nur bedingt. Ein achter Platz in Polen ist keine Visitenkarte.

Wilson zählt als Testfahrer für das 2017er-Auto seinen Sohn Matthew, Camilli und sogar seinen Kunden Henning Solberg auf – aber von Östberg ist keine Rede. Stattdessen spielt sich ein scheinbar ewiges Talent in den Vordergrund. Ott Tänak wurde nach einem mäßigen Jahr beim Kundenteam Dmack geparkt. Die B-Mannschaft von M-Sport fährt mit Reifen eines winzigen englischen Herstellers, der aus China finanziert wird. Zuletzt kaufte man mit einem Pirelli-Ingenieur Rallye-Know-how ein. In Portugal debütierte ein neuer Schotterreifen, mit dem der Este in Polen allen davonstürmte. Plötzlich waren die Dmack-Reifen in aller Munde. Andreas Mikkelsen versuchte bei 20 Sekunden Rückstand gar nicht erst, diesen Fiesta anzugreifen, Tänak fuhr an der Spitze so souverän, als sei er schon immer ein Siegfahrer gewesen.

Dass es doch nichts wurde mit dem ersten WM-Sieg für ihn und dem ersten für Ford seit Wales 2012, war nicht sein Fehler. Ein vom Regen ausgewaschenes Loch zerstörte auf der vorletzten Prüfung zwei Dutzend Reifen – einen davon an Tänaks Ford. Eine halbe Minute Zeitverlust bedeutete nur Platz zwei. Selbst der seiner Qualitäten so bewusste Ogier erkannte die Leistung des Pechvogels an. Er trug Tänak im Ziel demonstrativ auf seiner Schulter. Der Sieger hieß am Ende Andreas Mikkelsen. Auch der VW-Junior hat damit seinen Überraschungserfolg von Spanien 2015 bestätigt. Mit einem Malus von 51 Punkten ist der Rückstand des Tabellenzweiten zu groß, der Titelzug wohl schon abgefahren. Aber es geht ja vor allem darum, sich aufzubauen und in Stellung zu bringen – für die kommende Saison. 2016 ist ja nur ein Übergangsjahr.

In unserer Fotoshow zeigen wir Ihnen die Rallye-Generation 2017 bei Testfahrten.