Blickt man auf die Zeitenliste aus dem ersten Qualifying, dann scheint die Sachlage beim Speed klar zu sein. Die erste Startreihe geht komplett an Porsche, die zweite komplett an Toyota, und die dritte komplett an Audi. Betrachtet man die Abstände, ist die Angelegenheit ebenfalls deutlich: Nur Porsche schaffte eine Rundenzeit von unter 3.20 Minuten, zwischen den beiden Werks-Porsche 919 Hybrid lag eine halbe Sekunde. Der beste Toyota auf Platz drei verlor eine volle Sekunde auf die Pole-Zeit, das Laptime-Delta zwischen den beiden Toyota TS050 Hybrid lag bei etwas über einer Sekunde. Joest-Audi schließlich büßte mit dem bestplatzierten R18 auf Platz fünf volle drei Sekunden auf die Porsche-Pole ein, dafür war der Unterschied zwischen den beiden Audi im Vergleich zur Konkurrenz am geringsten: 0,043 Sekunden.
Abstimmungsarbeit durch Regen massiv beeinträchtigt
Was sagt das über die wahren Kräfteverhältnisse aus? Wenig, aus zahlreichen Gründen. Erstens sorgten zahlreiche Schauer immer wieder für wechselnde Streckenbedingungen, auch im einzigen freien Training vor dem ersten Qualifying, in dem allein drei rote Flaggen für Unterbrechungen sorgten. Zweitens fiel die normale Steigerungsrate dem Regen zum Opfer, denn im zweiten und dritten Qualifying am Donnerstagabend sorgte abermals Regen für inkonstante Bedingungen und für eine weitere Trainingsunterbrechung. Will sagen: die LMP1-Hersteller Audi, Porsche und Toyota hatten nicht nur Mühe einen ordentlichen Rhythmus zu finden, auch die Abstimmungsarbeit wurde massiv beeinträchtigt.
Man mag einwenden, dass die Teams immerhin beim Vortest einen trockenen Testtag zur Verfügung hatten, um die Autos an die Strecke anzupassen. Doch beim Vortest war Audi am schnellsten – vor Porsche und Toyota. Womit abermals die Frage bleibt: Welcher Hersteller hat den schnellsten LMP1 gebaut.
Im Porsche-Lager macht man folgende Rechnung auf: Timo Bernhard auf Platz zwei hatte bei seiner schnellsten Runde freie Fahrt ohne Verkehr in Sektor 1 und 2, wurde jedoch im dritten Sektor zwei Mal durch Verkehr eingebremst. Neel Jani erwischte eine gute Runde ohne viel Verkehr. „Ich denke, eine Sekunde hätte man noch finden können, frei Fahrt vorausgesetzt“, so der Schweizer nach dem ersten Qualifying. Porsche-LMP1-Teamchef Andreas Seidl stimmte zu: „1.18-Mitte wäre bei optimalen Bedingungen wohl drin gewesen.“
Toyota verkleinert die Lücke
Im Toyota-Lager war man mit der Rundenzeit von Stephane Sarrazin (3.20,737 Minuten) äußerst zufrieden. „Wir haben im Vergleich zum Vortest noch einmal etwas zur deutschen LMP1-Konkurrenz aufschließen können“, so Technikchef Pascal Vasselon. „Sarrazin hatte etwas Verkehr auf der Runde, das Setup war auch noch nicht zu 100 Prozent perfekt. Wenn ich das einrechne, dann glaube ich, dass wir eine Rundenzeit von 3.19-tief unter perfekten Bedingungen hätten schaffen können. Das passt auch zu unserer Simulation.“
Der Schnellste beim Vortest war der Langsamste beim Qualifying – nämlich Audi. Doch das ist erklärbar: Beide Audis hatten im freien Training technische Probleme, zum Teil massiver Art: Ein harter Ritt über die Kurbs machte beispielsweise beim R18 mit der Startnummer 8 den Tausch der kompletten Vorderachse samt MGU nötig – was fünf Stunden Arbeitszeit und weniger Fahrzeit beim Qualifying zur Folge hatte. Auch das Schwesterauto verlor im freien Training wegen eines Kraftstofflecks Abstimmungszeit. „Basierend auf dem, was wir beim Vortest gesehen haben, gehe ich davon aus, dass wir ebenfalls Rundenzeiten klar unter 3.20 Minuten hätten schaffen sollten“, so Joest-Teamchef Ralf Jüttner. Wie klar darunter? Dazu will sich Jüttner nicht äußern, aber wir wissen vom WM-Lauf in Silverstone und vom Vortest, dass Audi über eine schnelle Runde famosen Speed zeigen kann.
In Summe liegt der Verdacht nahe, dass alle drei LMP1-Hersteller in Le Mans theoretisch in der Lage sein müssten, Rundenzeiten zwischen 3.18-tief und 3.19-tief zu fahren – mit völlig unterschiedlichen Fahrzeugkonzepten, unterschiedlichen Rekuperationsverfahren und unterschiedlichen Motoren! Drei Hersteller in einer Sekunde? „Ich denke, dass das LMP1-Feld so eng beieinander liegt wie nie zuvor“, sagt Porsche-LMP1-Teamchef Andreas Seidl. Aber der Bayer fügt auch an: „Das Le-Mans-Rennen 2016 wird nicht primär über den Speed entschieden – sondern über die Zuverlässigkeit.“ Hier hat Porsche wegen des bewährten Konzeptes aus 2015 die beste Ausgangsposition. Audi hat erkennbar immer noch Mühe mit der Haltbarkeit bei ihrem neuen R18, bei Toyota ist man zuversichtlich, dass ihr neues Auto durchhält.