Schon vor dem 24h-Rennen in Le Mans lag 1955 ein dunkler, schmerzhafter Schatten über der Welt des Motorsports. Innerhalb nur weniger Tage hatte die Szene zwei ihrer größten Stars verloren: Am 26. Mai starb Alberto Ascari auf mysteriöse Weise bei einem Testunfall in Monza – nachdem der zweimalige Formel-1-Champion am Wochenende zuvor noch knapp dem Tod im Hafenbecken von Monaco entkommen war. Am 30. Mai zerschellte dann der zweifache Indy-500-Sieger Bill Vukovich auf dem legendärsten aller Ovale. Beide waren und sind für viele die Besten ihrer Zeit, aber selbst ihnen gegenüber zeigte das Schicksal kein Erbarmen.
Der eine oder andere wird mit den Gedanken bei den zwei Helden gewesen sein, als am sonnigen Nachmittag des 11. Juni ein illustres Sportwagen-Feld die größte Bühne der Langstrecke betrat. Es umfasste Namen, deren Klang Enthusiasten bis heute Herzklopfen bereitet: Aston Martin, Ferrari, Jaguar, Maserati, Mercedes oder auch Porsche schickten allesamt Vertreter an die Sarthe. Besonders viel Vorfreude erzeugte die Neuauflage des intensiven Vorjahresduells zwischen Ferrari und Jaguar.
Obendrein kam das Werksteam von Mercedes, das sich 1954 noch auf den Grand-Prix-Sport konzentriert hatte, aber nun nach der 24-Stunden-Krone griff. Sein Ass im Ärmel: eine Luftbremse. Die Idee dahinter war pragmatisch-simpel. Über einen Handhebel konnten die Fahrer hydraulisch eine Klappe in ihrem Rücken aufstellen. Der steigende Luftwiderstand vergrößerte folgerichtig die Verzögerung. Was in der Theorie eine clevere Antwort auf Jaguars innovative Scheibenbremsen gewesen war, funktionierte auch in der Realität. Star-Fahrer Stirling Moss erklärte nach den ersten Trainings, dass ihm die etwa 0,7 Quadratmeter große Fläche das Gefühl gebe, ein Fallschirmspringer zu sein.

Die 23. Ausgabe hatte das Zeug zum sportlichen Jahrhundertrennen. Zahlreiche ikonische Marken träumten vom Sieg. Besonders herbei gefiebert: Jaguar vs. Ferrari.
Geister der Vergangenheit
Unter den Augen Hunderttausender Zuschauer wurde die Anfangsphase jeder Hoffnung gerecht. Jaguar-Racer Mike Hawthorn und Mercedes-Maestro Juan Manuel Fangio jagten sich wie von Sinnen über den Kurs. Die Ferrari-Rivalen hielten erst mit, mussten dann jedoch abreißen lassen. Nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es unausweichlich, dass im deutsch-englischen Duell mehr als nur eine sportliche Auseinandersetzung lag. Die wie auch immer begründete Hitzigkeit mündete jedoch in einem folgenschweren Fehler.
Mike Hawthorn zog für seinen ersten Stopp eher unvermittelt in die damals nicht durch eine Mauer abgetrennte Boxengasse. Der kurz zuvor noch überrundete Austin-Healey-Fahrer Lance Macklin wurde von dem Manöver überrascht und wich nach links aus. Auf dieser Spur eilte allerdings bereits Pierre Levegh in einem weiteren Mercedes-Benz 300 SLR heran. Levegh, der eigentlich Pierre Bouillin hieß, mit dem Pseudonym aber seinen Rennfahrer-Onkel ehrte, wurde vom Austin-Heck in die Luft katapultiert. Das Ende der Flugbahn bedeutete das schlimmstmögliche Szenario: Vor dem außer Kontrolle geratenen Mercedes mit der Startnummer 20 lagen die Ausläufer der Haupttribüne.
Ein kleiner Wall samt Tunnelmauer verhinderte zwar, dass der Mercedes direkt zu den Fans durchdrang. Der erste Kontakt zerfetzte den Rennwagen jedoch, wodurch abgeschlagene Teile in die Zuschauermenge flogen und Levegh sein Leben verlor. Der Franzose war nach einem Kraftakt 1952, als er fast das ganze Rennen allein fuhr, allerdings durch einen Schaden kurz vor knapp ausfiel, zum Volkshelden aufgestiegen. Auch Leveghs Engagement bei Mercedes war eine direkte Folge dieses Husarenritts.

Mercedes wählte den Franzosen Pierre Levegh als Geste an die Gastgeber. Sein tragischer Tod hatte so eine schicksalshafte Metaebene.
Blutige Stunden an der Sarthe
Der pure Horror, der sich dann kurz nach 18.20 Uhr entfalten sollte, übersteigt jede Vorstellungskraft. Da das Fernsehen erst noch zum Massenphänomen werden musste, oblag es Radiostationen und Zeitungen, das Grauen abgeschnittener Körperteile (besonders oft in den Quellen erwähnt: Köpfe), verwirrter Neu-Waisen und improvisierter Sterbesakramente zufällig anwesender Priester um die Welt zu tragen. Die blutige Detailversessenheit der Journalisten wirkt aus heutiger Sicht schockierend. Für die noch vom Krieg traumatisierten Gesellschaften glich die Tonalität hingegen einem altbekannten Muster. So oder so zementierten die grausigen Worte das Bild vom schlimmsten Unfall der Rennsportgeschichte.
Der automobile Marathon sollte trotzdem weitergehen. Während die Rettungskräfte verzweifelt um Leben kämpften, eilten die Autos dröhnend durch die Reste der Rauchwolken. Selbst die eingefleischtesten Fans wunderten sich: Muss das denn wirklich sein? Der greise Rennleiter Charles Faroux, der den Klassiker im Jahr 1923 begründet hatte, rechtfertigte sich auf pragmatisch erscheinende Weise: Ein Abbruch hätte die Straßen verstopft und so den Weg in die Krankenhäuser blockiert. Kritiker wie auto-motor-und-sport-Chefredakteur Heinz-Ulrich Wieselmann hielten die rigorose Verkehrsplanung der örtlichen Polizei dagegen und sahen in der Entscheidung ein unverzeihliches Einknicken vor wirtschaftlichen Zwängen.
Als die Kühle der Nacht über Le Mans hereinzog, lag zwar Mercedes in Führung. Hinter den Kulissen versuchten die Oberen aber verzweifelt, auf den möglichen Sieg zu verzichten. Vor dem Krieg war es üblich, dass Teams aus Respekt vor ihrem verstorbenen Piloten das Fahren einstellten. Man wollte sich allerdings nicht erdreisten, diese Entscheidung ohne die Daimler-Direktion in Untertürkheim zu treffen. Überlastete Telefonleitungen verzögerten die Entscheidung bis 2 Uhr morgens. Begleitet von würdigendem Applaus, verließen die Mercedes-Mannen das Fahrerlager. Angesichts eines bereits vorher initiierten Rennsport-Ausstiegs sollten sie erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zurückkehren.

Heute erinnert eine Plakette auf Höhe des Starterturms an die Opfer des Jahres 1955. Die dahinterliegenden breiten Stufen stammen vom Umbau 1956.
Verbote und umfangreiche Änderungen
Der Stimmung entsprechend lag über der Strecke in den letzten Stunden ein grauer Schleier, aus dem sich Regen ergoss. Mike Hawthorn und Ivor Bueb brachten den dritten Jaguar-Sieg unspektakulär ins Ziel. Dort sollte sich Hawthorn dann ein Verhalten erlauben, das abseits der Heimat seinen Ruf zerstörte: In Sichtweite der Unfallstelle grinste der spätere F1-Weltmeister und stieß auf den Triumph an.
Die Folgen des Fiaskos wogen schwer. Etliche Rennen wurden abgesagt, darunter vier Grands Prix. Mehrere Nationen prüften anschließend ein komplettes Austragungsverbot und knüpften den Zwang verbesserter Sicherheit an den Fortbestand. Die Schweiz zog es durch. Der Rennsport-Bann wurde erst vor wenigen Jahren schrittweise aufgehoben.
Der Circuit de la Sarthe präsentierte sich 1956 stark erneuert. Sein Start-Ziel-Bereich wurde verbreitert und der Zuschauerraum besser geschützt. Die bis in die Gegenwart genutzten breiten Stufen unterhalb der Tribünen sind Zeugen dieses Umbaus, der sogar die Austragung bis Ende Juli verschob. Außerdem erinnerte eine Plakette an die Toten – von denen es keine allgemein akzeptierte Zahl gibt. Der Klassiker sah anschließend zwar weitere fatale Unfälle. Der erste Schritt für eine bessere Zukunft war dennoch getan.