Seidl: Ganz prinzipiell gesprochen gibt es im Motorsport gewisse Abläufe und Prozesse, von denen ich glaube, dass sie richtig sind und dass sie funktionieren. Das gilt unabhängig von der Rennklasse oder der Serie – also egal ob Langstreckenmeisterschaft oder Formel 1. Vergleiche über verschiedene Rennserien sind immer schwierig, schon weil sich die Renndistanzen fundamental unterscheiden. Denn natürlich macht es einen großen Unterschied, ob das Rennen 90 Minuten dauert oder eben 24 Stunden.
In der Formel 1 hat man als Aufgabenstellung 20 Sprintrennen, und für jedes dieser Rennen wird technische Entwicklung betrieben. Im LMP1-Sport ist das völlig anders, denn man hat eine Basishomologation für das Rennauto, deshalb ist das Niveau der Weiterentwicklung niedriger als in der Formel 1. Andererseits gibt es im LMP1-Reglement mehr technische und konzeptionelle Freiheiten, das beginnt bei der Entwicklung des Autos und geht bis zur finalen Homologation. Die enormen technischen Freiheitsgrade – das ist die Sache, die den LMP1-Sport spannend und faszinierend macht! In der Summe sind die aktuellen LMP1-Rennautos somit deutlich komplexer als die Formel-1-Wagen.
Seidl: Die Challenge auf der operativen Seite ist total anders als in der Formel 1. Im LMP1-Sport ist alles in der Saison ausgerichtet auf den Mega-Event in Le Mans: Dieses 24-Stunden-Rennen zu überstehen ist die größte Herausforderung im Motorsport – sowohl auf der menschlichen Seite für die Teammitglieder als auch auf der technischen Seite bezogen auf die Haltbarkeit der Rennautos. Menschen und Maschinen stehen nirgendwo sonst im weltweiten Motorsport unter so enormem Druck wie in Le Mans! Es ist eine Höllenarbeit, das Team so vorzubereiten, dass es auf den Punkt fit ist für dieses Saisonhighlight. In Le Mans muss bei jedem Boxenstopp alles perfekt funktionieren, ein kleiner Fehler kann das ganze Rennen ruinieren. Die Vorbereitung auf der technischen Seite ist ähnlich knifflig, denn ein komplexes LMP1-Auto so zuverlässig zu machen, dass es über 24 Stunden perfekt funktioniert – das ist unglaublich anspruchsvoll. Wir schuften mehr als ein halbes Jahr dafür, dass die LMP1-Autos 30 Stunden Beanspruchung am Limit aushalten und technisch fehlerfrei funktionieren.
Seidl: Absolut, es gibt nichts Komplizierteres oder Aufwendigeres. Es ist unvorstellbar hart, ein LMP1-Auto auf 30 Stunden Haltbarkeit zu validieren, in so einem Rennauto stecken mehrere Tausend Bauteile. Im Idealfall hat man in der Vorbereitung zu Le Mans vier Rennsimulationen über 30 Stunden, und normalerweise laufen die nicht alle nach Plan. Sprich: Es gibt Probleme, die aussortiert werden müssen über zusätzliche Entwicklungsschleifen. Dann hat man vielleicht im April die Bauteile mit der finalen Le-Mans-Spezifikation, aber noch nicht aus der finalen Fertigungs-Batch.
Das heißt: Selbst wenn diese Bauteilspezifikationen standfest sind, hat man trotz der Rennsimulationen immer noch keine Garantie dafür, dass sie in Le Mans auch halten werden. Da können immer noch Fehler aufploppen, es kann immer noch Qualitätsprobleme geben. Beim letzten Dauerlauf versucht man, nur noch die Teile aus dem finalen Fertigungs-Batch zu verwenden, aber selbst das ist noch keine Garantie. Und selbst wenn jedes Bauteil für sich selbst genommen klaglos funktioniert, so muss das Endprodukt immer wieder korrekt gefertigt und fehlerfrei zusammengebaut werden. In diesen Prozessen liegen logischerweise auch unglaublich viele Fehlerquellen, die man systematisch abzustellen versucht. Dann kommt man nach Le Mans – und hat exakt diese eine Chance. Wenn es nicht klappt, musst du wieder ein Jahr lang warten und alle Hürden noch einmal überwinden und von Neuem durchexerzieren.
Seidl: Die Antwort lautet: nein. Die Formel 1 ist vom Gesamtpaket und auch aufgrund der Anzahl der Rennen eine einmalige Challenge, aber wenn man da mal ein Rennen verbockt, kann man das zwei Wochen später wieder korrigieren. Le Mans ist einmal im Jahr, es ist das absolute Saisonhighlight der Sportwagen- WM, so etwas wie der Heilige Gral. Deshalb ist der Druck so enorm groß. Als Teamchef befehligen Sie in Le Mans eine große Mannschaft, die Phase vom Vortest übers Scrutineering bis zum Rennen ist extrem lang.
Seidl: Du bist mit deiner Mannschaft in Le Mans zwei Wochen wie in einem Käfig eingeschlossen, das sind in Summe gut 80 oder 90 Leute. Du verbringst die gesamte Zeit in diesem Mikrokosmos der Garage, im Käfig des Fahrerlagers. Das ist organisatorisch, aber auch menschlich eine echte Führungsaufgabe, deine Truppe da heil durchzubekommen, sodass alle halbwegs happy sind und motiviert bleiben. Man darf ja nicht vergessen, dass die Mechaniker teilweise nächtelang durchschrauben und absolut am Limit ihrer Belastungsfähigkeit operieren. Le Mans ist für ein Team die absolute Grenzsituation – ungefähr so, als wenn du auf den Mount Everest kletterst.
Seidl: Den Mythos kann man in Le Mans wirklich spüren. Allein schon das Fahrerlager dort ist einmalig, es gibt nichts Vergleichbares. Wenn man dann bei den ganz Großen um den Gesamtsieg mitfährt, man den ganzen Druckaufbau über die Le-Mans-Woche erlebt – das ist wirklich speziell! Und wenn man darüber hinaus die siegreichste Marke in der Geschichte des 24h-Rennens von Le Mans vertritt – nämlich eben Porsche –, dann ist das noch einmal etwas ganz Besonderes. Viele von uns haben ja schon die unterschiedlichsten Fahrerlager in verschiedenen Rennserien erlebt, aber wir fühlen uns hier im Langstreckensport und in Le Mans voll zu Hause. Wir alle mögen die besondere Atmosphäre dieses Fahrerlagers, das sich natürlich in vielen Punkten zum Beispiel von der Formel 1 stark unterscheidet.
Seidl: Der Einsatz in Le Mans ist Teamwork, und ich habe ein sehr starkes Team um mich herum, das mit mir zusammen die notwendigen Entscheidungen vorbereitet und trifft. Bei normalem Rennverlauf ist dies auch bei drei Fahrzeugen noch einigermaßen beherrschbar. Grundsätzlich legen wir im Team alle unsere Abläufe und Prozesse so aus, dass wir auch in Worst-Case-Szenarien noch Herr der Lage bleiben. Unter Worst Case verstehen wir zum Beispiel zur gleichen Zeit technische Probleme an allen drei Fahrzeugen oder die Strategiewahl für alle drei Fahrzeuge bei einsetzendem Regen oder bei Safety-Car-Phasen.
Hier wird beim Einsatz von drei Fahrzeugen relativ schnell klar, dass kein Mensch der Welt gleichzeitig übergeordnet für drei Fahrzeuge diese Entscheidungen treffen und aktiv mit den Fahrzeugmannschaften kommunizieren kann. Also haben wir unsere drei Mannschaften vorab so trainiert, dass Kommunikation, Abläufe und Strategieszenarien auf allen drei Fahrzeugen vor dem Rennen klar definiert und identisch waren. Unsere drei Renningenieure als Fahrzeugleiter bekamen die notwendige Freiheit, aber auch den Rückhalt von mir, ihr Ding während eines Worst-Case-Szenarios allein verantwortlich durchziehen zu können.