Der Wind, das himmlische Kind, bläst stärker als es für ein LMP1-Auto gut sein kann. Zumindest glaubten das außenstehende Beobachter am Freitagmorgen um 09.00 Uhr, bevor die erste Test-Session für die Sportwagen-WM und damit auch für die neue Generation der LMP1-Rennwagen begann. "Von denen wird heute früh keiner fahren", raunzte ein ehemaliger Sportchef.
Wind bringt LMP1-Test in Paul Ricard nicht durcheinander
Falsch geraunzt, und wie: trotz böiger Winde, die in der Spitze bis zu 9 Windstärken erreichten, spulten Toyota, Audi und Porsche ihr Testprogramm ungerührt ab und absolvierten bis zur ersten Mittagspause um 13.00 Uhr zusammengerechnet 341 Runden oder 1.975 Kilometer.
Und der Wind? Beeinträchtige er den LMP1-Speed? Überhaupt nicht! Die Bestzeit markierte Porsche mit einer LMP1-Rundenzeiten von 1.39,292 Minuten. Zum Vergleich: vor einem Jahr lag die Bestzeit beim WM-Test noch zwei Sekunden darüber (1.41,3 Minuten), aber am Reglement hat sich nichts geändert. Warum die neuen LMP1-Autos der Saison 2015 abermals deutlich schneller sind als im Vorjahr? Weil alle drei Hersteller ihre Fahrzeuge gründlich überarbeitet haben.
Porsche-Ingenieure rechneten beim Test in Bahrain Mitte Februar vor, dass sie mindestens eine Performance-Steigerung von rund zwei Prozent erwarten. Umgerechnet auf die WM-Strecken (mit Ausnahme von Le Mans, denn dieser Kurs ist auf Grund seiner Länge und Streckencharakteristik ein Sonderfall), bedeutet das eine Netto-Steigerung der Rundenzeit von circa 2 Sekunden pro Runde. Die Rundenzeiten in Ricard scheinen den Trend also zu bestätigen.
Toyota mit angezogener Handbremse?
Geht noch mehr? Der Verdacht liegt nahe, denn Toyota-Ingenieure ließen zum Beispiel vor Beginn der Testfahrten in Ricard durchblicken, dass sie ihre Karten hier sicher nicht voll aufdecken würden. Wie man das macht? Man fährt mit mehr Abtrieb als nötig oder mit weniger Leistung als möglich. Oder man spult die Runden einfach immer mit einem gut gefüllten Benzintank ab, sprich mit mehr Gewicht. Toyota jedenfalls antwortete, als Porsche den Fehdehandschuh hinwarf, und fuhr ebenfalls eine Rundenzeit von 1.39,949 Minuten, Audi folgte mit Abstand dahinter (Bestzeit: 1.40,9 Minuten).
Der Wind machte übrigens wider Erwarten keine großen Schwierigkeiten, wie Joest-Technikdirektor Ralf Jüttner festhielt, der den Audi-Einsatz vor Ort koordiniert: "Der Wind ist kein Problem, wir können problemlos fahren. Auf der langen Mistral-Geraden haben wir mächtig Rückenwind, was natürlich gut ist für die Top-Speed. Das einzige Problem ist theoretisch die ultraschnelle Signes-Kurve am Ende der Mistral-Geraden, weil durch den Richtungswechsel ein plötzlicher seitlicher Winddruck entsteht, der das Auto leicht aus der Spur wehen kann. Aber die Fahrer hatten sich nach zwei Teststunden am Funk noch kein einziges Mal über den Wind beklagt."
Dass das Porsche-LMP1-Werksteam vorläufig die Spitze in der Rangordnung markiert, kann nicht verwundern: Die Werkspiloten hatten bereits am Donnerstag bei der Enthüllung der Le-Mans-Livery des 919 Hybrid schon angekündigt: "Wir fahren voll und wollen zeigen, was wir können." Offenbar halten sie Wort.