Alles andere als ein Ferrari-Triumph wäre eine gigantische Überraschung gewesen. Über weite Teile des Klassikers fuhren die zwei roten Werksrenner und das gelbe Privatauto der Konkurrenz um die Ohren. Schon vor der Nacht winkte der Porsche-Fahrer Laurens Vanthoor genervt ab: "Wir haben null Chance. Sie sind bei der Rundenzeit schneller, und ihre Topspeeds sind höher." Längere Zeit hatte die AF-Corse-Truppe sogar eine Dreifach-Führung inne. Am Sonntag schlichen sich dann jedoch plötzlich Schnitzer ein. Diese kosteten massiv Zeit,...
... aber hätte es wirklich noch in die Hose gehen können?
Grundsätzlich ja. Die Durchfahrts- und Stop-and-Go-Strafen der Werksautos brachten den weitgehend fehlerfreien Nummer-6-Porsche mit besagtem Vanthoor sowie Kévin Estre und Matt Campbell heran. Durch zwei bittere Wendungen sprang er sogar vorbei. Zum einen drehte sich Alessandro Pier Guidi (#51 AF Corse; Co-Piloten: Antonio Giovinazzi und James Calado) in der Boxengasseneinfahrt und konnte nur mit Mühe dem Kiesbett entkommen. Nach einem Notfallstopp eine Runde zuvor wegen einer FCY-Unterbrechung musste er den vollen Service nachholen. Diese extrem unglückliche Konstellation kostete circa 50 Sekunden.
Zum anderen erlitt der Schwesterwagen mit der Nummer 50 (Antonio Fuoco, Nicklas Nielsen und Miguel Molina) in der letzten Stunde ein Motorproblem. Der Antrieb drohte sogar hochzugehen. "Deshalb mussten wir den Kampf um Platz 2 gegen Porsche letztlich abblasen", ärgerte sich Ferrari-Technikchef Ferdinando Cannizzo. Oder anders: Die Werksautos hatten sich selbst schachmatt gesetzt.
Dadurch blieb nur noch einer, der das Debakel verhindern konnte: der gelbe #83-AF-Corse-Renner. Offiziell gilt er als privat eingesetztes Auto. Doch bei der 93. Ausgabe des Le-Mans-Rennens wurde besonders klar, dass seine Taktik in Kooperation mit den roten Garagenschwestern entstand. Das Hin und Her am Funk, das vielleicht bei dem einen oder anderen Formel-1-Fans alte Traumata aufbrechen ließ, hatte schlussendlich rennentscheidende Folgen.

Eine rege Ferrari-Beteiligung auf dem Podium konnte früh abgesehen werden. Die Konstellation wurde aber wild durchgewürfelt.
Ermöglichte Kubicas Nörgeln erst den Sieg?
Über das gesamte Rennen hinweg ließ Robert Kubica gegenüber seinem Renningenieur nicht locker, wenn es um die Taktik ging. Der Pole bestand darauf, fair gegen die roten Kollegen kämpfen zu dürfen. Ferrari war dies, wenig überraschend, nicht geheuer. Doch mit der wachsenden Bredouille der Hauptakteure wuchs der Druck, der besser gelegenen Nebenrolle das Rampenlicht zu geben. Die Nummer 83 hatte zwar auch eine Durchfahrtsstrafe kassiert, hielt sich aber dennoch vor dem am Limit agierenden Porsche.
Erst nach der Mittagszeit war die Entscheidung pro Privatier gefallen – gerade rechtzeitig wegen der vorab beschriebenen Konstellation. Kubica erhielt neben frischen Reifen und einem verlängerten Stint die Freigabe, den Ferrari-Hattrick ins Ziel zu bringen. Als einen Grund für die Hartnäckigkeit nannte der glückliche Gewinner: "2021 habe ich den LMP2-Sieg in Le Mans in der letzten Runde verloren, weil das Auto liegen blieb. Yifei Ye war damals mein Teamkollege. Jetzt haben wir beide zusammen die Scharte auswetzen können."
Ihnen half zudem Phil Hanson, dessen Performance allerdings nicht ganz mithielt. Er sagte: "Wir hatten eigentlich darauf hingearbeitet, unser Auto für kühle Bedingungen abzustimmen. Im Rennen hat sich aber herausgestellt, dass wir bei warmen Bedingungen am Tag besser waren als unsere roten Schwesterautos, deshalb waren unsere Triple-Stints besser."

Für die langersehnte Ehrenrunde brauchte es reichlich Überzeugungskraft. Robert Kubica krönte durch sie seine Karriere.
Wieso flog nur der Nummer-50-Ferrari aus der Wertung?
Um 22.00 Uhr am Montag lieferte Le Mans die letzte Schlagzeile des Jahres. Die FIA verkündete, dass der #50-AF-Corse-Ferrari aus der Wertung genommen wird. Glücklicherweise war es der "schlechteste" 499P, der am Ende auf dem vierten Rang gelandet war. Schnell waberte Aufregung durch die Szene und durch die Kommentarspalten. Wenn einer die Abnahme versaut, müssten womöglich auch die anderen beanstandet werden.
Der Fall der Nummer 50 hatte aber Freak-Charakter. Beim Belastungstest der Heckflügelstütze fanden die Stewards eine riesige Differenz. Rechtlich unproblematisch wäre ein Unterschied von 15 Millimetern gewesen, die Probe ergab brutale 52 mm. Ferrari hatte direkt eine Begründung parat: Vier Schrauben fehlten dem 499P in diesem Bereich.
Man argumentierte, dass es keinen Performance-Vorteil gebracht habe. Die Stewards sahen es anders. Die beiden Schwesterautos – und damit der Sieger – bestanden die strengere Abnahme für Top-Fahrzeuge. Obwohl die beiden Podiumsergebnisse unangetastet blieben, ärgerte sich die Ferrari-Crew über die verlorenen WM-Zähler.

Vier fehlende Schrauben im Bereich der Heckflügelstütze warfen den #50-Ferrari nicht nur aus dem Homologationsfenster, sondern auch aus der Wertung.
Was lief bei Mick Schumacher und Alpine schief?
Vor dem Rennen sorgte Mick Schumacher durch unschmeichelhafte Zitate für Aufsehen. Im Gegensatz zu vielen seiner Sportwagen-Kollegen bezeichnete er die 24 Stunden von Le Mans als gewöhnliches Rennen. Womöglich schien dies dem Klassiker missfallen zu haben. Denn er ließ Schumacher auch beim zweiten Anlauf frustriert zurück. Zwar konnte der Formel-1-Träumer das Rennen endlich beenden. Aber etliche Probleme, darunter eine Durchfahrtsstrafe und ein Ausrutscher seines Kollegen, nahmen ihm früh den Spaß.
Zwei Dinge dürften den deutschen Star dennoch gefreut haben. Zum einen war er um Welten Alpines schnellster Pilot. Zum anderen bugsierte ihn die Disqualifikation des #50-Ferrari noch in die Top 10. Insgesamt war das Rennen für Renaults Sportmarke eine herbe Enttäuschung. Der vermeintliche Geheimfavorit hatte nie eine Chance.

In der Startphase war die Boxengasse der Feind des "A-Teams". Es hagelte Speeding-Strafen.
Wurde Valentino Rossi um den Sieg beraubt?
Es ist zum Verzweifeln. Auch beim zweiten Auftritt scheiterte der #46-BMW des Doktors an der Hürde der Nacht. Im Gegensatz zum Vorjahr, als ein unnötiger Crash des Amateurs das vorzeitige Ende bedeutete, war es diesmal ein bizarrer Technik-Defekt. Der blau-gelbe M4 hatte ein bislang ungeklärtes elektrisches Problem, in dessen Folge unter anderem die Servolenkung ausfiel und Profi Kelvin van der Linde geradeaus ins Kiesbett rodelte. Der Südafrikaner rettete sich zwar in die Box zurück, aber das Sicherheitsrisiko erschien den Verantwortlichen zu groß.
Nur wenig später erwischte es das bis dahin solide durchgekommene #31-Schwesterauto. Der K.o.-Grund war tierisch tragisch. WRT-Boss Vincent Vosse sagte: "Es hat einen armen, kleinen Hasen erwischt. Der Kühler war platt." Nach Führungsrunden von Rossi erscheint die Frage nach dem Potenzial naheliegend. Ein rivalisierender Teamchef erklärte, dass der M4 eine gute Frühform gezeigt hatte, jedoch zwei Fragezeichen mit sich herumfuhr: die vorgeschriebene Amateur-Fahrzeit und die Performance ab dem Morgen. Hier wären die BMW wohl etwas im Nachteil gewesen. Trotzdem hätten sie eine wichtige Rolle spielen können. Dann eben nächstes Jahr.

Ab dem Morgen blieb Valentino Rossi nur noch die Rolle des Beobachters. Er dachte sich, aller guten Dinge sind drei.
Wieso wurde es in der LMP2-Wertung nochmal eng?
Die kleine Prototypen-Klasse sah in Form des Inter-Europol-Oreca einen dominanten Sieger. Das Trio Tom Dillmann, Nick Yelloly und Jakub Śmiechowski zeigte eine starke Leistung. Am Ende wäre es – ähnlich wie bei Ferrari – fast in die Hose gegangen. Yelloly widerfuhr ein gefährlicher Fehler im Schlussspurt: Wegen zu hoher Boxengeschwindigkeit hagelte es eine Durchfahrtsstrafe.
Auf einmal schien es so, als ob der verfolgende #48-VDS-Panis-Oreca noch den Last-Minute-Tausch schaffen könnte. Doch ein kleiner Aufhängungsschaden der VDS-Truppe rettete Nick Yelloly und Polens optische Antwort auf den Grello. Masson managte nur den zweiten Rang ins Ziel. Bei der Pressekonferenz sahen alle Beteiligten darin eine Art ausgleichende Gerechtigkeit.

Inter Europol Competition gewann bereits 2023 auf dramatische Weise die 24 Stunden der LMP2.
Warum präsentierte sich das Rennen so ungewöhnlich ruhig?
Zum Schluss die alles entscheidende Frage! Nach einer riesigen Vorfreude und lautstarken Umschreibungen wie "Rennen des Jahrtausends" konnte die Realität nicht mit den Erwartungen Schritt halten. Dafür gibt es einige Erklärungen. Beginnen wir mit der einfachsten: Es gab schlicht zu wenige Zwischenfälle, die den Saisonhöhepunkt hätten resetten können. Dadurch stand die Taktik klar im Vordergrund – nicht die Action. Allerdings sollte auch das einzige Safety-Car mitten in der Nacht nicht viel an der Gemengelage ändern. Außerdem spielte seit Ewigkeiten mal wieder das Wetter keine formatfüllende Rolle.
Eine andere Vermutung war die Balance of Performance in der Hypercar-Klasse. Während Ferrari davoneilte, hingen die anderen mehr oder weniger auf einem Fleck herum. Durch ähnliche Performance-Fenster fiel es Fahrern teils schwer, langsamere Klassengegner zu überholen. Besorgt von dieser eher neuen Dynamik entschieden etliche Teams, den Fokus in Richtung der Strategie zu verschieben.
Was auch immer schlussendlich das Dilemma auslöste: Es könnte 2026 wieder ganz anders kommen. Trotzdem haben die Ausrichter vor dem 13./14. Juni 2026 reichlich Themen auf der Hausaufgabenliste.