VW Golf VI mit über 300.000 km für 1.000 Euro: Top oder total bekloppt?

VW Golf VI mit über 300.000 km
Kilometerfresser für 1.000 Euro - top oder flop?

Veröffentlicht am 26.11.2024

Da predigt man als Gebrauchtwagenredakteur ständig, ein guter Pflegezustand sei das A und O – und kauft dann ein verdrecktes Auto mit Standschäden, unsauberen Unfallreparaturen und mehr als 300.000 Kilometern auf dem Zähler. Alles falsch gemacht? Nein, weil ich den Vorbesitzer seit der ersten Grundschulklasse kenne, ebenso die minutiöse Wartungshistorie, die seinen "Golfi" in Form eines dicken gelben Ordners begleitet. Am Beispiel dieses 2011er VW Golf VI 1.6 TDI, eines üppig ausgestatteten Sondermodells "Style", schauen wir mal, ob sich Kauf und Alltagsbetrieb eines Gebrauchten mit hoher Laufleistung wirklich lohnen. Das Video (übrigens auch mit einem 1.6 TDI) zeigt, dass der Golf VI an sich noch lange nicht zum alten Eisen gehört, und auch im Vergleich zu seinen Nachfolgern noch Talente beweist.

Vom Pendlerauto zur Baumleiche

Langstreckenauto, Großstadtleben, Kurzstreckenpendler und zuletzt Urlaubsmobil für seltene Heimatbesuche: Das ist in Kürze die Chronologie eines rastlosen Autolebens. Vor lauter Fahrerei und mangels Zeit blieben die hübschen Alufelgen nach zwei Sommern eingelagert, der Golf riss viele Jahre auf Winterreifen ab. Dann, im Sommer 2020, da standen schon weit über 200.000 Kilometer auf dem Zähler, ein Auffahrunfall im stockenden Verkehr. Eine fachgerechte Reparatur hätte eigentlich den wirtschaftlichen Totalschaden bedeutet. Weil der VW aber noch prima fuhr, riet ich zur zeitwertgerechten Reparatur in Eigenregie: ein paar Gebrauchtteile, Kotflügel und Motorhaube über Ebay, fix und fertig vorlackiert – Sortierung: günstigstes Angebot zuerst – und schon war alles wieder gut. Da der Wagen in erster Hand bei einem Modeunternehmen bereits einen reparierten Vorschaden hinten rechts erlitten hatte, störten die nicht überall perfekten Spaltmaße der China-Kotflügel vom tschechischen Online-Händler nicht weiter. Unterm Blechkleid gab es übrigens keine Beschädigung.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

Danach wurde der Golf die folgenden zwei Jahre kaum noch bewegt, fristete – im Freien abgestellt – ein trauriges Dasein, während es den Besitzer ins Ausland zog. Für den mittlerweile bemoosten, ohnehin nie öfter als einmal im Jahr gewaschenen Golf hätte kein potenzieller Käufer mehr als den Exportpreis bezahlt. Dass mittlerweile Pflänzchen aus den Türgummis wuchsen, ertrug ich nicht, zumal der VW als Kilometerfresser meinen Fuhrpark sinnvoll entlasten würde. Ich griff zu.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

Die Bestandsaufnahme offenbart Standschäden

Die Standschäden schienen augenscheinlich zunächst größer als erwartet. Ein feuchter, achtlos auf den Rücksitz geworfener Schwamm hatte den Innenraum über einen Winter und einen Sommer zwischenzeitlich kräftig angeschimmelt. Dieser wurde für 250 Euro vom Aufbereiter chemisch gereinigt und wieder hübsch gemacht. Zudem schmeckte einem Injektor die dauerhaft abgestandene Dieselfüllung nicht, er quittierte auf der Überführungsfahrt nach Hause den Dienst. Die 800 Euro für die Reparatur beim Fachmann übernahm dankenswerterweise der Vorbesitzer, genauso wie die Kur fürs Interieur.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

Wer selbst einen modernen Diesel aus dem Dornröschenschlaf erwecken will, sollte auf eine ausgiebige Probefahrt nicht verzichten. Dazu gehören auch mehrere Startvorgänge, denn die ersten 50 Kilometer lief der Golf zwar etwas rumpelig, sonst aber scheinbar problemlos.

So stellte ich erst zu Hause fest, dass der Anlasser den Motor in warmem Zustand nicht mehr durchdrehen wollte. Klar, nach unzähligen Start-Stopp-Kilometern kann das Teil auch hinüber sein. Ersatz hatte ich schon besorgt, diesmal natürlich auf eigene Kosten. Beim Zerlegen fiel mir die völlig korrodierte Kupferleitung von der Batterie zum Anlasser auf. Etwas Kontaktspray, ein paar Drahtbürstenstriche – seitdem arbeitet der Anlasser wieder tadellos. Nachdem im Winter doch mal eine neue Batterie fällig war, liefert er auch einwandfrei zackige Start-Stopp-Vorgänge, wenn man vergisst, das System zu deaktivieren.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

Dieser Werdegang zeigt, dass lange Standzeiten oft schädlicher sind als konstante Bewegung. Der zu Anfang etwas unrunde Motorlauf hat sich durch konsequentes Freifahren mit Premium-Diesel und einem Fläschchen Systemreinigungs-Additiv wieder vollkommen beruhigt. Einwandfreier Durchzug und die günstigen, mit etwas Langmut erreichbaren Verbräuche im hohen Drei- Liter-Bereich zeigen, dass der Motor nicht weniger gesund arbeitet als ein neuwertiges Exemplar. Beruhigend kommt hinzu, dass sich im Wartungsordner eine Rechnung über 1.011 Euro findet, die eine Profi-Reinigung des Rußpartikelfilters bei 243.000 Kilometern attestiert.

Wichtig ist eine lückenlose Wartungshistorie

Genau darauf kommt es an. Wen juckt ein schlecht entgrateter Falz auf der Innenseite der Motorhaube, wenn es dafür Belege zu allen Wartungsarbeiten gibt? Weder wurden Ölwechsel ausgelassen noch Verschleißteile außer Acht gelassen, zudem zeichnen sich keinerlei HU-Mängel ab. Ein zusätzliches VW-Wartungsheft ergänzt das durchgestempelte Original. Ob sich die insgesamt 14.981,36 Euro Wartungs- und Reparaturkosten über neun Jahre für den Vorbesitzer gelohnt haben, steht auf einem anderen Blatt. Klar ist jedoch, dass man als preisbewusster Käufer kaum wirtschaftlicher unterwegs sein kann als mit diesem Golf. Er fährt nicht schlechter oder weniger modern als viel teurere Durchschnitts-Gebrauchte und kostet dabei selbst mit den nötigen Reparaturkosten weniger als ein halbes Jahr Leasing.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

Mechanisch ist nun alles in Ordnung, meint auch der HU-Prüfer. Also investierte ich zuversichtlich Geld in gute neue Reifen und etwas Muskelschmalz in die äußere Aufbereitung. Obwohl (oder weil?) der Golf vermutlich seltener als ein Jahreswagen eine Waschanlage von innen gesehen hat, offenbarte sich unter der Verwitterung ein annähernd jungfräulicher weißer Lack ohne Kratzer oder sonstige Mängel – von den zahlreichen Steinschlägen auf der Billig-Motorhaube mal abgesehen. Auch der Innenraum erfreut nach etwas Handarbeit einen verblüffend guten Zustand. Die guten Komfortsitze sind nirgendwo abgewetzt oder durchgesessen. Das Lederlenkrad besitzt zwar die Art Patina, die sich schon nach ein-zwei Jahren einstellt, ist aber noch in tadellosem Zustand. Nur am Kunststoff der unteren Lenkradspeiche ist tatsächlich Abrieb zu sehen – ein Indiz dafür, dass der allergrößte Teil der Laufleistung von ein und demselben Fahrer und dessen Handhaltung abgespult wurde.

Der insgesamt gute Zustand des Innenraums liegt einerseits an der hohen Materialqualität, andererseits natürlich auch am pfleglichen Umgang. Lieblos behandelte Firmenwagen sehen nach weniger Kilometern oft deutlich übler aus. Selbst der erwähnte Abrieb an der Lenkradspeiche fällt nur bei genauerer Betrachtung auf.

Optisch frisch, technisch zuverlässig

Natürlich garantieren selbst die beste Wartungshistorie oder der kundigste Technik-Check keine völlige Problemlosigkeit. Die erste Sommerhitze offenbarte nämlich noch einen defekten Klimakompressor, der mich noch rund 500 Euro kosten wird. Zusammen mit den neuen Reifen käme ich laut Internet etwa auf den Durchschnittspreis vergleichbarer Golf VI mit ähnlicher Laufleistung. Doch ob die im Zustand so gut sind wie dieses Exemplar? Ursprünglich lief mein Vorhaben unter dem Projektnamen "Verbrauchtwagen". Doch dafür ist der Golf, für den ich gerade mal 1.000 Euro bezahlt habe, zu gut in Schuss. Demnächst kommt noch ein Komplettsatz Bremsen, der in Eigenarbeit montiert wird, sowie die Erneuerung sämtlicher Motorlager. Die lassen beim Lastwechsel ein Vor- und Zurückwippen des Antriebs spürbar durch und sind nicht mehr allzu talentiert darin, die Vibrationen des Selbstzünders aufzufangen. Weil das ein schleichender Prozess ist, fällt es vielen Besitzern im Alltag kaum auf.

Gebrauchtwagen VW Golf 6 Kilometerfresser
Caroline Jüngling

So kann ein günstig bepreister Kilometerkönig sehr wohl ein cleverer Kauf sein, sofern Wartungshistorie und Vorbesitz stimmen. Und am Ende gilt eben doch das bewährte Gebrauchtkauf-Motto: Was zählt, sind nicht Alter und Laufleistung, sondern vor allem Zustand und Wartungshistorie!