Auf den ersten Blick wirkte die Szene fast unschuldig. Zwar hatte sich der Ferrari F60 von Felipe Massa tief mit der Nase in den Reifenstapel gebohrt. Zudem waren die Fronträder abgeknickt. Aber nichts deutete auf das Drama hin, das sich wenig später vor den irritierten Sportwarten ausbreitete. Erst als sie erkannten, dass der Brasilianer K.o. geschlagen im immer noch hochdrehenden Auto lag und in seinem Helm ein Loch klaffte, realisierten sie die Schwere des Moments, der die Formel 1 verändern sollte.
Bis heute erscheinen die Umstände am Ende des zweiten Qualifying-Segments absurd. Ausgangspunkt war ein bizarrer Technikdefekt am Brawn-Mercedes von Rubens Barrichello. An seinem dritten Dämpferelement, das nur ab einer bestimmten Geschwindigkeit agiert und die Bodenfreiheit reguliert, wurde die Schraubenfeder lose. Durch starke Schläge in einer Senke zwischen der dritten und der vierten Kurve war zunächst Öl ausgetreten, dann löste sich der Sicherungsbolzen von der Kurbelstange, die Feder und Dämpfer in Position hält.
Anschließend hüpfte die 833 Gramm schwere Feder vom Heck davon und genau in den Weg von Felipe Massa. Der amtierende Vizemeister hatte über 250 km/h auf seinem Display stehen, als das 20 Zentimeter lange Teil quasi unsichtbar auf Augenhöhe heranschoss. Es traf den Brasilianer schließlich am oberen linken Rand des Visierausschnitts. Nur wenige Zentimeter tiefer hätte es direkt die Polycarbonat-Scheibe torpediert – eine grausame Vorstellung.

Formel-1-Rennarzt Gary Hartstein begutachtete Felipe Massa kurz nach seinem Unfall. Der linke Teil des Visiers wurde aus der Verankerung geschlagen.
Nur acht Tage im Krankenhaus
Massa war sofort bewusstlos, stand dabei aber gleichzeitig auf dem Gas- und Bremspedal. Der Ferrari fuhr geradeaus weiter und rodelte kurz über das Gras im Inneren der vierten Kurve. Zusammen mit dem Weg durch die Auslaufzone verlangsamte der V8-Renner von 250 auf 100 km/h. Der Einschlag blieb zwar heftig, aber fast nebensächlich. Aus dem anfänglichen Aufräumeifer der Marshalls wurde Hektik. Nach dem Medical Car erreichten zwei Rettungswagen die Stelle. Während die Retter den wieder wachen Massa bargen, ließen erste TV-Wiederholungen erahnen, was passiert ist.
Ein im Anschluss um die Welt gegangenes Foto zeigt Massa in den Armen der Helfer. Sein rechtes Auge ist weit aufgerissen, das linke bleibt geschlossen. Darüber liegt eine blutige Platzwunde. Unter der Leitung von Formel-1-Arzt Gary Hartstein stand eine Erstuntersuchung im Medical Center an. Dann wurde der Brasilianer in ein Budapester Militärkrankenhaus gebracht. Dort diagnostizierten die Ärzte neben der Schädelverletzung eine schwere Gehirnprellung. Zudem gab es Sorgen um den Sehnerv des linken Auges. Unterbrochen von einem Scan am Sonntag befand sich Felipe Massa die ersten Tage im künstlichen Koma. Immerhin stellten sich schnell gute Nachrichten ein.
Erst hieß es, ihm gehe es den Umständen entsprechend gut. Dann erklärte Massas persönlicher Arzt Dino Altmann, der auch an der Strecke von São Paulo tätig war, dass die Erholungskurve besser als gedacht verläuft. Aus dem Stand sprach Massa beispielsweise Portugiesisch, Italienisch und Englisch mit den Medizinern. Altmann traute sich sogar schon am Mittwoch danach an eine Prognose heran, die alle Fans begeisterte. Gegenüber La Gazzetta dello Sport sagte er: "Ich zweifle nicht daran, dass Felipe wieder fahren wird. Die erste Rehabilitation war extrem schnell, zudem stimmt alles beim Bewegungsapparat." Acht Tage nach dem Unfall verließ der Ferrari-Fahrer das Krankenhaus.

Im März 2010 gab Massa sein Renn-Comeback. Der Heilungsprozess verlief laut seiner Ärzte schneller als erwartet.
Massa fällt aus, Schumi kann nicht
Bis der elfmalige Sieger wieder in eine Startaufstellung fuhr, vergingen jedoch fast acht Monate. Beim Saisonstart 2010 in Bahrain qualifizierte sich Massa direkt auf dem zweiten Platz, auf welchem er auch ins Ziel einlaufen sollte. Zwei Piloten hielten sein Cockpit zuvor warm: Luca Badoer und Giancarlo Fisichella. Badoer haderte in den ersten zwei Rennen, danach übernahm "Fisico". Der Römer hatte vorher in Belgien für Force India eine Überraschungs-Pole-Position geholt. Seine italienisch-italienische Affäre blieb anschließend unterwältigend. Der F60 war zu unausgegoren im Vergleich mit Rivalen wie dem Doppeldiffusor-Wunderkind Brawn.
Fast wäre es hier schon zum Blockbuster-Comeback von Michael Schumacher gekommen. Der zu diesem Zeitpunkt als Ferrari-Berater engagierte Rekordweltmeister hätte durchaus Lust auf die Aushilfsrolle gehabt. Jedoch wirkte der Motorrad-Crash im Frühjahr nach. Im Februar 2009 war Schumi bei einem Superbike-Test gestürzt. Brüche im Bereich von Kopf und Hals resultierten in anhaltende Nackenbeschwerden. Das Comeback wurde 2010 in Mercedes-Diensten Realität.
Auch wenn Felipe Massa darauf besteht, sich nicht verändert zu haben, bleibt der Sommer 2009 eine Zäsur in seiner Karriere. Der heute 43-Jährige gewann in noch acht Saisons kein Rennen mehr. Seine besten Jahresendresultate waren drei sechste Plätze (2010, 2011 und 2015). Mit Fernando Alonso und Valtteri Bottas zeigten ihm hierbei allerdings starke Teamkollegen die Grenzen auf. Zuletzt geriet der in der südamerikanischen Stock-Car-Pro-Serie aktive Massa eher aus befremdlichen Gründen in die Schlagzeilen: Er ficht die bittere Titelniederlage 2008 rechtlich an.
"Zweite Warnung" für die GP-Szene
Die tragische Ironie des letzten Laufs vor der Sommerpause 2009 war, dass schon am Freitag intensiv über neue Schutzmaßnahmen diskutiert wurde. Nur eine Woche zuvor war Henry Surtees, der Sohn von John Surtees, verstorben, nachdem ihn in Brands Hatch ein loses, 29 Kilogramm schweres Rad am Kopf getroffen hatte. Die Formel-2-Hoffnung erlitt einen Hirntod. Auch er blieb bewusstlos auf dem Gas stehen.
Die schmerzhaften Umstände ließen den unschuldigen Rubens Barrichello noch geschockter zurück. Er sagte damals: "Persönlich glaube ich nicht an Zufälle im Leben. Es gibt Gründe für Dinge und ich glaube, dass wir nun die zweite Warnung bekommen haben. Auch Imola war damals so eine, worauf Änderungen folgten. Es ist fürchterlich traurig, dass wir mit John Surtees so einen jungen Menschen verloren haben."
Er bestätigte, dass die GPDA (Grand Prix Drivers' Association) bereits über Änderungen beraten hatte. Echte Vorschläge fehlten jedoch noch. "Die Autos sind jetzt schon um Längen sicherer, aber wir dürfen nicht aufhören, uns weiter zu verbessern." Lewis Hamilton, der am Sonntag für McLaren den ersten KERS-Sieg der Geschichte einfahren sollte, forderte ebenfalls eine Untersuchung.

Dank des Halo-Schutzbügels werden seit 2018 größere Teile vom Kopf der Piloten abgelenkt. Kleinere Trümmer können jedoch weiterhin den Helm treffen.
Erst Zusatzschicht auf Helm, dann Halo
Der Bericht brachte allen voran eine positive Erkenntnis. Die neueste Generation von Carbon-Helmen leistete bei Massa gute Arbeit. Um das Eindringen von Fremdkörpern in den Kopfschutz noch weiter zu erschweren, haben die Hersteller Arai, Schuberth und Bell schon kurz nach dem Unfall selbst gehandelt. Die Struktur der Vollcarbonschale wurde an den Rändern hinter dem Visier mit zusätzlichen Lagen verstärkt.
Ab dem Großen Preis von Japan 2011 mussten sie zudem einen vier Zentimeter breiten Zusatzstreifen aus Zylon oberhalb des Visiers anbringen. Dieser war nicht nur wegen des Extra-Gewichts allerdings umstritten. Die aktuellen Varianten des Kopfschutzes verzichten auf die Ergänzung. Im Jahr 2018 feierte mit dem Halo-Schutzbügel die bislang folgenschwerste Maßnahme ihr Debüt. Die meisten Formel-Serien folgten dem Vorbild. Das US-amerikanische IndyCar-Championat ergänzte obendrauf eine Scheibe, die auch kleine Teile abhalten soll.
Während der Halo – wie allen voran bei Romain Grosjean 2020 zu sehen war – größere Fremdkörper ablenkt, ist die Sorge von gefährlichen Kleinteilen also nicht ganz verschwunden. Felipe Massa resümierte in der Dokureihe "Motorsport Heroes": "Obwohl ich nicht glaube, dass ich mich verändert habe, entdeckte ich etwas Neues in mir. Ich habe gelernt, mein Leben mehr zu respektieren – und das von anderen."