Saubere Luft. Das ist im vierten Jahr der Groundeffect-Autos der Schlüssel zum Sieg. Wer vorne fährt, bekommt zwei Zehntel geschenkt und schont obendrein die Reifen. Deshalb werden der Startplatz und der Start immer wichtiger. Und deshalb wird beim Spurt in die erste Kurve immer mehr riskiert. Suzuka war allen noch in schlechter Erinnerung. Wer die Nase vorne hatte, blieb auch dort. Max Verstappen konnte 53 Runden lang zwei schnellere McLaren in Schach halten.
Das gleiche Szenario drohte in Jeddah. Bei den hohen Geschwindigkeiten haben die Turbulenzen einen noch stärkeren Einfluss als in Suzuka. Die verwirbelte Luft bleibt in dem engen Betonkanal gefangen. Charles Leclerc beschrieb das Problem aus Sicht des Piloten. "Wenn du zu nah auf den Vordermann auffährst, bekommst du sofort Untersteuern." In Konsequenz leiden die Reifen. Zu nah, heißt zweieinhalb Sekunden und näher.
Für Max Verstappen und Oscar Piastri war klar: Wer die erste Kurve gewinnt, hat die besten Chancen auf den Sieg. Piastri kam besser aus den Startlöchern, hatte die Nase am Bremspunkt minimal vorn, sah dann aber einen Verstappen, der seinen Red Bull von außen in die Kurve rollen ließ und so am Scheitelpunkt auf gleicher Höhe lag. Der McLaren blieb auf der Strecke, der Red Bull nicht. Verstappens erste Reaktion am Funk: "Oscar hat mich abgedrängt. Wo sollte ich hin?"

In der FIA-Pressekonferenz erklärte Verstappen, dass er sich mit Aussagen zur Strafe nicht noch mehr Ärger einhandeln will.
Keine Aussage aus Angst vor Strafen
Das war das letzte, was der Weltmeister zu dem Vorfall sagte. Nach dem Rennen verweigerte er jede Aussage. Zu dem Manöver auf der Strecke selbst, zum Urteil der Sportkommissare und darüber, ob er ohne die Fünfsekunden-Strafe gewonnen hätte. "Alles, was ich jetzt sage, kann gegen mich verwendet werden. Ich darf nicht fluchen, nicht kritisieren, nichts sagen, was irgendjemand in ein schlechtes Licht rückt. Es gibt da einen langen Katalog von Dingen, die nicht erlaubt sind. Sonst werde ich wieder bestraft. "
Eine kleine Pointe erlaubte er sich dann doch: "Da war der Start und plötzlich schon die 50. Runde. Es ging so schnell, dass ich mich an das, was dazwischen war, nicht mehr erinnern kann." Piastri konnte es. Der Australier zeigte einmal mehr, wie gelassen und abgezockt er in seinem erst dritten Jahr schon ist.
Schon am Funk hatte er gefordert, dass Verstappen seinen Platz hergeben muss. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen tut er das völlig unaufgeregt und sachlich wie ein Buchhalter. "Max hätte die Kurve nie und nimmer bekommen. Ob ich da gewesen wäre oder nicht."
In der Nachbetrachtung zeigte der neue WM-Spitzenreiter, dass er die Regeln sehr gut kennt. Die Überhol-Richtlinien waren erst letztes Jahr in Katar noch einmal angepasst worden. Piastri wies darauf hin, dass der Fahrer auf der Innenspur mindestens auf Höhe des Spiegels des Autos auf der Außenseite sein müsse, um das Vorfahrtsrecht einzufordern.

Das Urteil entsprach den Zweikampf-Regeln. Piastri lag am Kurvenscheitel mit der Vorderachse mindestens auf Höhe der Außenspiegel des Red Bulls.
Fahrer-Richtlinien bremsen Verstappen aus
Genau das schrieben die Sportkommissare nach dem Rennen in ihre Urteilsbegründung. "Das Auto mit der Startnummer 81 hatte am Scheitelpunkt seine Vorderachse mindestens auf Höhe des Spiegels des Autos mit der Startnummer 1. Tatsächlich lagen die beiden Autos Seite an Seite am kritischen Punkt. Gemäß den Fahrer-Richtlinien gehörte die Kurve dem Auto mit der Startnummer 1. Er durfte deshalb den Platz in der Kurve einfordern."
Erschwerend hinzu kam, dass nach Ansicht der Schiedsrichter Verstappen durch den Notausgang abkürzte und sich dadurch einen nachhaltigen Vorteil verschaffte. Er habe sogar sofort versucht einen Vorsprung herauszufahren. Kein Lupfen, keine Rückgabe des Platzes.
Red Bull-Sportchef Helmut Marko zweifelt, ob es für Verstappen besser gewesen wäre Piastri vorbeizuwinken und sich damit die fällige Fünfsekunden-Strafe zu sparen. "Dann hätte Max in der verwirbelten Luft fahren müssen, und der Piastri wäre ihm vielleicht so davongefahren, wie Max ihm dann davongezogen ist."
Der erste Stint bis zum Boxenstopp zeigte, welcher Bonus die Führung war. Bis zur 15. Runde hielt sich Piastri meistens im DRS-Bereich des Red Bull. Dann ging die Schere auf. Am McLaren machten die Medium-Reifen schlapp.
Als Verstappen nach 19 Runden seinen Vorsprung auf 2,6 Sekunden ausgebaut hatte, zog McLaren die Reißleine. Der Undercut zusammen mit der Strafe für Verstappen ließ das Pendel umschwingen. Als Verstappen nach seinem Stopp wieder auf die Strecke ging, hatte er 2,7 Sekunden Rückstand. Und musste nun selbst die schlechte Luft schlucken.

Verstappen ist immer noch mittendrin im Kampf um die Fahrerkrone - obwohl der McLaren das stärkere Auto ist.
McLaren macht zu wenig aus Überlegenheit
Trotz der Strafe, die viele im Red-Bull-Lager als gestohlenen Sieg einstuften, war es aus Sicht des Titelverteidigers ein positiver Tag. Nach der Pole Position am Samstag zeigte der RB21 auch auf die Distanz eine unerwartete Ausdauer. Teamchef Christian Horner sah ohne die Strafe eine echte Siegchance: "Wir hatten im Ziel nur 2,8 Sekunden Rückstand und konnten McLaren bei freier Bahn davonfahren."
Das wollte Piastri nicht unterschreiben: "Wir haben unter dem Strich immer noch das schnellere Auto, doch Max war näher dran als erwartet. Das kann mit der Strecke zu tun haben. Suzuka und Jeddah sind sich sehr ähnlich. Auf beiden Strecken war Red Bull stark. Wir müssen trotzdem wachsam sein. Ich musste heute einige Risiken eingehen, die wir uns hätten sparen können."
Piastri dachte dabei wohl an das atemberaubende Überholmanöver gegen Lewis Hamilton. Er musste nach seinem Boxenstopp unter allen Umständen so schnell wie möglich an dem Ferrari vorbeischieben, um keine Zeit auf Verstappen zu verlieren. Piastri pfeilte sich mit 320 km/h durch eine winzige Lücke in dem Highspeed-Geschlängel vor Kurve 23. Alle hielten die Luft an.
Bei kritischer Betrachtung hat McLaren trotz seiner Überlegenheit aus den ersten fünf Rennen zu wenig gemacht. Verstappen ist immer noch mittendrin im Titelrennen mit nur zwölf Punkten Rückstand auf Piastri und zwei Zählern auf Norris. Deshalb war aus Sicht des Weltmeisters die beste Nachricht des Wochenendes, dass es ihm und den Ingenieuren erneut gelungen war, die Diva zu zähmen.
"Sicher sind uns die Strecke und der reifenschonende Asphalt entgegengekommen, doch wir haben es geschafft, aus einem schlechten Auto am Freitag ein gutes für den Samstag und Sonntag zu machen." Der Wunsch des Titelverteidigers liegt auf der Hand: "Eine bessere Fahrzeugbalance und mehr Konstanz."