Wie schnappte sich Max Verstappen den WM-Titel?

Max Verstappen profitiert von F1-Konkurrenz
Was hat die Formel-1-WM entschieden?

Veröffentlicht am 22.12.2024

Was für ein Unterschied in nur zwölf Monaten! 2023 stand im Zeichen eines Teams und eines Fahrers. Red Bull gewann 21 Rennen, Ferrari eines. Der Rest ging leer aus. Max Verstappen sammelte 19 von 22 Mal den größten Pokal ein und entschied vier von sechs Sprints für sich. Die Formel-1-Geschichte hält nichts Vergleichbares bereit, wo die Kombination aus Fahrer und Auto so überlegen war. Weder Jim Clark und Lotus 1965 noch Michael Schumacher und Ferrari 2004.

Verstappen und Red Bull hätten den Sport in eine echte Depression schicken können, wenn diese Saison im Stile der alten weitergegangen wäre. So schien es mit vier Verstappen-Siegen in den ersten fünf Rennen zunächst, doch dann wendete sich das Blatt wie von Zauberhand. In Abu Dhabi ziehen wir demütig Bilanz: Sieben Fahrer und vier Teams teilten sich die 24 Trophäen untereinander auf. Red Bull räumte mit neun Siegen zwar weiter den Löwenanteil ab, doch McLaren mit sechs, Ferrari mit fünf und Mercedes mit vier Siegen waren keine Laufkundschaft. Da war weder Glück noch Zufall im Spiel. Jeder gewann sein Rennen, weil er an dem Tag der Beste war. Verstappen war es öfter als der Rest.

Max Verstappen vs Lando Norris - GP Katar 2024
Wilhelm

Verstappen provoziert

Seine Aussage, dass er auch in einem McLaren oder Ferrari Weltmeister geworden wäre, kam bei den Kollegen nicht gut an. Ferrari-Teamchef Frédéric Vasseur tadelt: "Das lässt sich so nicht hochrechnen. Der McLaren oder der Ferrari wäre mit Max ein anderes Auto gewesen, weil der Fahrer immer mitbestimmt, in welche Richtung sich das Auto entwickelt."

Der Red Bull RB20 gab ab dem sechsten Rennen nicht mehr den Ton an. Ab da brauchte man schon das Ausnahmetalent Verstappen im Auto, um zu gewinnen. McLaren schaffte mit der B-Version seines MCL38 in Miami etwas, das im dritten Jahr eines Fahrzeug-Reglements eigentlich nicht mehr möglich sein sollte. Mit einem einzigen Upgrade verwandelte sich das viertschnellste Auto in das schnellste. Später störten immer mal wieder Ferrari und Mercedes das Bild, doch unter dem Strich gab McLaren das Tempo für den Rest des Jahres vor. Die unglaubliche Wende ist vielleicht so zu erklären, dass Red Bull gleichzeitig viel falsch gemacht hat.

Im Bemühen, die stärker werdende Konkurrenz abzuwehren, floppten die eigenen Entwicklungsschritte. Statt umzukehren, stellte man sich mit dem Versuch, Abtrieb zu finden, immer mehr ins Abseits. Den Abtrieb gab es nur im Windkanal. Auf der Strecke ging die Balance verloren. Das Auto konnte entweder langsame oder schnelle Kurven und an schlechten Tagen weder das eine noch das andere. Das waren die Tage, an denen Verstappen klagte: "Das Auto ist nicht verbunden. Die Front macht etwas anderes als das Heck." Die Ingenieure merkten plötzlich, dass sie in ihrem mutigen neuen Konzept gefangen waren. Technikchef Pierre Waché räumt ein: "Vielleicht wäre es besser gewesen, das Auto auf dem Konzept des alten RB19 weiterzuentwickeln."

Für die Siegmaschine Verstappen und sein Team war es eine neue Erfahrung. Sie mussten das Verlieren erst einmal wieder lernen. Das führte intern zu Spannungen, die sich erst am Tiefpunkt der Saison in Monza auflösten. Dann rissen sich alle zusammen, um den Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen. Die Ingenieure kramten die alten Unterböden vom vierten Rennen in Suzuka hervor und verbanden sie mit neuen Elementen, um den Anpressdruck nutzbarer zu machen.

Ab dem GP USA war der Red Bull wieder in der Spur. Er blieb aber ein Auto, bei dem je nach Bedingungen das Set-up exakt getroffen werden musste. Das beste Beispiel für seine Launenhaftigkeit lieferte der RB20 in Katar. Im Sprint konnte Verstappen nicht einmal dem Haas F1 von Nico Hülkenberg folgen. Drei Stunden später stellte er das Auto auf die Pole-Position und gewann tags darauf das Rennen.

Lando Norris - McLaren - GP Abu Dhabi 2024 - Yas Marina - Formel 1
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Giftpfeile für die Gegner

Je mehr die Konkurrenz am Vorsprung von Red Bull knabberte, umso öfter feuerte der Titelverteidiger Giftpfeile auf den größten Gegner McLaren ab. Red Bull ging gegen allzu biegsame Flügel und Wasser in den Reifen vor, hatte mit seiner Lobbyarbeit aber nur zum Teil Erfolg. Die flexiblen Heckflügel-Flaps am McLaren mussten verschwinden, doch beim Frontflügel stellte sich die FIA auf den Standpunkt: Wer den statischen Belastungstest besteht, ist legal. Die Kühlung der Reifen durch Injizieren von Wasser erwies sich als Luftblase.

Dass Verstappen drei Rennen vor Schluss entspannt mit einem fünften Platz in Las Vegas zum vierten Mal Weltmeister wurde, liegt größtenteils an ihm. Obwohl sein Red Bull über weite Strecken nur noch das zweit- oder drittbeste Auto war, schaffte er es, seine Verfolger in der WM auf einem Sicherheitsabstand von 40 Punkten zu halten. Er war ständig besser als sein Auto. Lando Norris, Charles Leclerc oder George Russell schlugen zu wenig Kapital aus den Chancen, die ihnen der schwächelnde Red Bull in der Phase von zehn sieglosen Rennen bot.

Nur in der Markenwertung konnte sich Red Bull nicht wehren. Mit einem Einmannteam wird man nicht Konstrukteurs-Weltmeister. Sergio Pérez kam mit dem launischen Red Bull nicht zurecht. "Seine Probleme begannen mit einer Unterboden-Entwicklung in Spanien 2023. Ab da war das Auto immer schwerer zu fahren", verrät Teamchef Christian Horner. Zum Schluss war Pérez so in seiner eigenen Krise gefangen, dass die einfachsten Dinge nicht mehr funktionierten. Den Titelgewinn machten McLaren und Ferrari unter sich aus. Am Ende setzte sich McLaren durch.

McLaren profitierte von der besten Konstanz. Jedes Upgrade funktionierte. Die Ingenieure waren schlau genug, dem großen Schritt von Miami viele kleinere folgen zu lassen, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Teamchef Andrea Stella lobt seine Truppe: "Wir haben ein gutes System entwickelt, wie wir neue Teile anhand unserer Windkanaldaten und CFD-Simulationen bewerten können, sodass wir auf der Rennstrecke keine bösen Überraschungen erleben." McLaren nutzte auch die Schlupflöcher bei der Biegsamkeit der Flügel am konsequentesten aus. Das war ein Verdienst von Neuzugang Rob Marshall, der schon bei Red Bull dafür berühmt war, erfolgreich in den Grauzonen des Reglements zu fischen. "Vielleicht hätten wir ihn nicht so einfach gehen lassen sollen", übt Red-Bull-Sportchef Helmut Marko Selbstkritik. Marshall ist ein Designer, der die mechanischen Aspekte eines Rennautos im Auge hat. Er kennt sich mit Fahrdynamik, Aufhängungen und Carbon-Strukturen aus. "Den Windkanal betrete ich gar nicht", amüsiert er sich.

Anotnio Fuoco - Ferrari - Test - Abu Dhabi 2024 - Formel 1
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Wer verschenkte wo Punkte?

Jeder hat aus individuellen Gründen entscheidende Punkte verschenkt. McLaren in den ersten fünf Rennen vor dem Miami-Upgrade. Ferrari in seinem Sommerloch. Eine Fehlentwicklung beim Unterboden kostete Ferrari sechs Rennen. "Wir haben zwar schnell reagiert, doch zwei Rennen gehen schon mal verloren, weil du nicht sofort auf den alten Boden zurückgreifen kannst. Und bis wir einen neuen hatten, sind wir vier Rennen mit einem Kompromiss gefahren", gibt Vasseur zu.

Nach der Sommerpause war Ferrari wieder in der Spur. Dummerweise verschenkte das Team ausgerechnet da in Baku und Singapur zwei Pflichtsiege durch Fehler der Fahrer. Vasseur ist überzeugt: "Das brach uns das Genick." McLaren brauchte vier Rennen, um auf die Ferrari-Offensive zu reagieren. "Ab Monza hatte Ferrari definitiv das beste Auto. Erst in Mexiko konnten wir mit unserem letzten Upgrade wieder dagegenhalten", blickt Stella zurück.

Mercedes hatte nie eine Titelchance. George Russell und Lewis Hamilton spürten zwar vom ersten Test an, dass aus diesem Auto etwas werden könnte, doch erst beim GP in Kanada waren die Silberpfeile siegfähig. Ein neuer Frontflügel und mehrere Unterboden-Modifikationen kehrten die Stärken des W 15 heraus. Kein anderes Auto schonte so gut seine Vorderreifen. Man musste nur das Heck unter Kontrolle bringen, damit sich das auszahlen würde. Diese Balance war nur schwer herzustellen.

Ein biegsamer Frontflügel löste das Problem in schnellen Kurven. Die Misere in langsamen Kurven blieb, speziell bei Sommerwetter. Die Fahrer mussten das Heck in engen Kurven mit kontrolliertem Gaseinsatz drehen. Wenn es nicht gerade so kalt war wie in Las Vegas, schossen so die Temperaturen der Hinterreifen durch die Decke. Wie Ferrari hatte auch Mercedes sein Unterboden-Erlebnis. Die Version, die in Zandvoort debütierte, machte auf der Strecke nicht das, was der Windkanal versprach. Sie wurde ab Austin durch die fünfte Unterboden-Variante erfolgreich abgelöst.

Lewis Hamilton - Mercedes - GP Abu Dhabi 2024 - Yas Marina - Formel 1
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Zwischen Sieg und Nirgendwo

George Russell zog ein anschauliches Fazit zu seinem Dienstauto: "Es hat ein extrem enges Arbeitsfenster. Wenn wir eine Fahrzeugabstimmung finden, die dieses Fenster trifft, haben wir ein Siegerauto. Es ist aber bei ständig wechselnden Rennstrecken und Bedingungen zu leicht, dieses Fenster nicht zu treffen. Dann sind wir nirgendwo. Es ist frustrierend, ein Auto mit so viel Potenzial, aber genauso vielen Leistungsschwankungen zu haben. Mit der Ausnahme Montreal haben wir in den Momenten, in denen wir ein gutes Auto hatten, das Maximale herausgeholt."

Die Entwicklung der Autos wurde durch zwei Komponenten bestimmt: den Unterboden und den Frontflügel. Beide waren aus unterschiedlichen Gründen gleich wichtig. Beim Unterboden setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass der gemessene Abtrieb auch für den Piloten spürbar sein muss. "Es ist mit diesen Groundeffect-Autos sehr einfach, mehr Abtrieb zu finden, aber sehr schwer, ihn dort zu platzieren, wo du ihn haben willst. Das kann ganz leicht eine Instabilität erzeugen. Diese Effekte sind schwer zu korrelieren", warnt Red-Bull-Mann Waché.

Die restriktiven Regeln reduzieren die Fortschritte auf Trippelschritte. "Keiner findet heute auf ein Mal 15 Punkte Abtrieb. Es sind eher fünf. Wenn du dann aber das Set-up anpassen musst oder Bouncing bekommst, sind die Nebenwirkungen schlimmer als der Gewinn", erzählt Vasseur.

Auch der Frontflügel hat die Konstrukteurs-WM mitentschieden. McLaren war das erste Team, das den Flügel bei zunehmender Last so kontrolliert verbog, dass der Abtrieb in schnellen Kurven Richtung Heck wanderte. Das schuf Vertrauen beim Fahrer. Mercedes kopierte den Trick als Erster, dann folgte Ferrari. "Möglicherweise ein bisschen zu spät", grübelt Vasseur. "Wir wollten nicht eine halbe Million Dollar in eine Entwicklung stecken, die mitten in der Saison verboten wird. Das kannst du dir unter dem Kostendeckel nicht mehr leisten. Die FIA hat erst Anfang September erklärt, dass alle Flügel erlaubt sind, die den statischen Test bestehen. Erst dann haben wir die Produktion neuer Flügel freigegeben." Diese Praxis wird sich 2025 möglicherweise fortsetzen. Die FIA will die Flügeltests auf dem Stand von jetzt einfrieren.