Welche Schulnote würden Sie der Saison geben?
Wolff: Das Problem ist, dass ich in der Schule nie was Besseres als eine Vier hatte. Ich würde dem Jahr eine Vier geben. Am Ende geht es um das Resultat in der Meisterschaft, und das war mit dem vierten Platz nicht gut genug. Wenn ich nur die zweite Saisonhälfte ab Juli benoten müsste, wäre es eine zwei. Wir haben vier Rennen gewonnen, waren ein paar Mal knapp dran, sind auf die Pole-Position gefahren. Wenn George [Russell] in Spa nicht disqualifiziert wird und wir in Melbourne nicht ausfallen, stünden wir vielleicht auch in der Meisterschaft besser da.
Was hat Sie geärgert?
Wolff: Dass wir am Anfang des Jahres so lange gedauert haben, bis wir verstanden haben, in welche Richtung wir gehen müssen.
Und der positive Eindruck?
Wolff: Als wir im Juni gesehen haben, dass die Neuentwicklungen am Frontflügel, Unterboden und bei mechanischen Themen auf der Rennstrecke ihren Niederschlag fanden.
Mercedes ging in dieser Saison durch vier Phasen. Von durchwachsen bis siegfähig, dann noch einmal das Gleiche. Wie ist dieses Auf und Ab zu erklären?
Wolff: Das hat sich auch bei anderen Top-Teams gezeigt. Diese Autos sind extrem sensibel. Mehr Abtrieb bedeutet nicht per se schneller zu fahren. Der Großteil des Anpressdrucks wird vom Unterboden erzeugt, und der reagiert so sensibel, dass dich das schnell zurückwerfen kann, wenn eine Kleinigkeit nicht stimmt. Ferrari hatte diese Phase, auch McLaren und ganz stark Red Bull. Die Kunst ist es, das Auto in dem optimalen Bereich zu halten, und der ist winzig klein.

Die Performance des Mercedes W15 schwankte 2024. Das Team wurde WM-Vierter.
Wie ist es zu erklären, dass man sich trotz bester Werkzeuge, trotz hoher Kompetenz in den Technikbüros im dritten Jahr dieser Fahrzeug-Generation immer noch im Dunkeln bewegt.
Wolff: Keiner schafft es über ein ganzes Jahr diese hochkomplexe Wechselwirkung zwischen Unterboden und Straße bei unterschiedlichsten Bedingungen unter Kontrolle zu halten.
Es gab aber immer wieder Momente, wo Ihr geglaubt habt alles zu verstehen, und dann war es doch nicht so. Wie ist das möglich?
Wolff: Wenn du ein Upgrade ans Auto bringst und das funktioniert über einige Rennen, dann glaubst du automatisch die Richtung verstanden zu haben. Dann kommst du auf eine andere Rennstrecke, hast das nächste Upgrade im Gepäck, das dir zehn Punkte Abtrieb oder zwei Zehntel bringen soll, und dann geht plötzlich gar nichts mehr. Das Auto untersteuert oder springt, und alles, was du zu wissen glaubtest, ist falsch. Dann baust du zurück, verlierst damit aber Entwicklungszeit.
Wie kommt man dauerhaft aus diesem Wald?
Wolff: Alle vier Teams, die dieses Jahr Rennen gewonnen haben, haben diese Höhen und Tiefen erlebt. Niemand hat ein Auto konstruiert, das über alle Rennstrecken und alle Wetterbedingungen stabil gut war. McLaren hatte ein super Auto für maximalen Abtrieb und heißes Wetter. Auch der Ferrari war eher auf dieser Seite. Unser Auto war schnell, wenn es schnelle Kurven gab und die Temperaturen kalt waren. Der Red Bull konnte mal das eine, mal das andere. Die Kunst ist so oft wie möglich auf der guten Seite zu stehen. Du beginnst Muster zu korrelieren. Rennstrecken, wo dein Auto gut ist. Trainingssitzungen, in denen du dein Auto vorangebracht hast. Reifenmischungen, mit denen das Auto besser harmoniert. Streckentemperaturen, die gut für das Auto sind. Ich hoffe, dass wir daraus über den Winter die richtigen Schlüsse ziehen und die Entwicklungsrichtung für das 2025er-Auto anpassen. Ganz wird man diese Schwankungen nicht wegbringen. Wir werden sie auch nächstes Jahr bei allen Teams sehen.
Das heißt, dass diese Autos den Teams eine ganz andere Planung aufgezwungen haben als 2021 und die Jahre davor?
Wolff: Das sehe ich auch so. 2021 hat jede Entwicklung funktioniert. Hat der Windkanal mehr Abtrieb versprochen, war er auch auf der Strecke da. Heute hat dein Auto eine bestimmte Performance. Es gibt aber keine allgemeingültigen Regeln, wie du die erreichst. Das ist von Strecke zu Strecke unterschiedlich. Wenn in einer schnellen Kurve der Unterboden an der Außenkante leichten Kontakt mit der Straße hat, beginnt der Abtrieb abzureißen. Du musst dein Auto dann so einstellen, dass er diesen Kontakt nicht gibt. Das kostet dich aber anderswo Rundenzeit.

Bei hohen Temperaturen verschliss der Mercedes zu stark die Hinterreifen.
Wie groß ist die Unbekannte, was da wirklich zwischen Boden und Straße passiert?
Wolff: Es gibt da einen grauen Bereich, doch die noch größere Unbekannte ist die Interaktion mit den Reifen. Es kann passieren, dass du in einem breiten Fenster maximalen Abtrieb produzierst, aber der Reifen das in diesem Fenster nicht übertragen kann. Weil du den Reifen zu stark beanspruchst und er dann dagegen protestiert.
Eines der Probleme des Autos war, dass bei bestimmten Bedingungen die Hinterreifen zu heiß wurden. Lässt sich das Problem lösen?
Wolff: In dieser Saison ging das nur zum Teil. Um es komplett zu lösen, müssen wir am Auto etwas umbauen. Wir mussten mit dem Problem leben und es so gut wie möglich kaschieren. Ein trivialer Ansatz wäre eine bessere Belüftung der Bremskühlung, aber da gewinnst du vielleicht drei Grad Reifentemperatur. Also zu wenig.
Bei vielen Teams kam der im Windkanal ermittelte Abtrieb auf der Strecke nicht an. Die Fahrer konnten ihn nicht nutzen. Hören die Ingenieure zu wenig auf die Fahrer?
Wolff: Das ist ein physikalisches Problem. Der Fahrer hat vielleicht instinktiv eine Meinung dazu, kann aber auch keinen Lösungsansatz geben. Sie können nur kommentieren, was das Auto macht. Es ist nicht so, dass die Ingenieure nicht Anpressdruck für bessere Fahrbarkeit opfern wollen. Jeder würde gerne auf zehn Punkte Abtrieb verzichten, wenn dann sichergestellt wäre, dass der Fahrer das kompensiert, weil er sich im Auto wohler fühlt. Die Garantie gibt es aber nicht.

Mehrere Unfälle gegen Ende des Jahres brachten Mercedes 2024 an die Grenze des Budget-Limits.
Wie wichtig ist es, dass die Ingenieure ihre Fehler einsehen und zur Not einen Schritt zurückgehen?
Wolff: Das sehen sie immer ein. Sie bauen ja nicht absichtlich was ans Auto, das nicht funktioniert. Bei uns jedenfalls. Es mag das ein oder andere Team geben, das aus diesem Teufelskreis nur schwer rauskommt.
Die Montags-Briefings von Mercedes wurden in den erfolgreichen Jahren berühmt, weil bei den wenigen Niederlagen klare Worte gefallen sind. Wie sehen diese Briefings in einer Phase aus, wo nicht mehr so viel gewonnen wird?
Wolff: Du musst in diesen Meetings in guten wie schlechten Zeiten eine emotionale Stabilität behalten. Das ist nicht immer einfach. Daran muss ich auch selbst arbeiten. Nur wenn du die Emotionen raushältst, kannst du die Situation gut analysieren. Die Gefahr in der Kritik zu überziehen gibt es immer. Zum Glück habe ich im Team ein paar Leute, die mir sofort sagen: Das ist jetzt zu viel. Irgendwann merkst du, dass dich Druck nicht weiterbringt.
Eine Aufholjagd verlangt mehr Entwicklung. Dazu kamen in paar Unfälle. Wie knapp war es bei Mercedes das Kostenlimit einzuhalten?
Wolff: Haarscharf. Du kannst dir keinen großen Notgroschen aufbauen. Es ist eher so, dass du am Anfang des Jahres überschießt und dann zu sparen beginnst. Wir mussten am Ende des Jahres auf einige Upgrades in der Aerodynamik und Mechanik verzichten, weil einfach kein Geld mehr da war, die entsprechenden Teile zu produzieren. Da reiten dich die Unfälle am Saisonende ziemlich rein. Kimi [Antonelli] in Monza, George [Russell] in Austin und Mexiko. Irgendwann einmal hatten wir nur noch einen Satz von einem bestimmten Flügeltyp. In Mexiko konnten wir nicht mehr zurück auf die alte Aero-Spezifikation, weil keine Ersatzteile mehr vorhanden waren. Für neue war kein Geld innerhalb des Kostenlimits mehr da.
Sind Sie trotzdem noch in Fan des Budgetdeckels?
Wolff: Auf jeden Fall. Weil er die Teams profitabel und damit den Sport nachhaltig gemacht hat.

Dank des Budget-Caps und des Formel-1-Booms verdienen die Teams Geld, anstatt es wie früher zu verbrennen.
Verdient Mercedes Geld mit der Formel 1?
Wolff: Wir machen richtig Gewinn. Die Profitabilitätskennzahl beträgt 30 bis 35 Prozent vor Steuern. Das kompensiert bei uns sogar die Ausgaben für den Motor. Dieses Klischee von früher, dass die Formel 1 nur Geld verbrennt, ist Geschichte. Unter dem Strich war die Formel 1 noch nie so gesund wie heute.
Müsste man dann nicht um jeden neuen Hersteller wie Cadillac oder vielleicht Toyota in ein paar Jahren froh sein?
Wolff: Wenn Cadillac jetzt mit einem Werkseinsatz kommt und ein entsprechendes Marketing-Budget in die Formel 1 investiert, dann ist das ein Mehrwert für die Formel 1.
Viele Teams sind da skeptisch. Verliert ihr mehr, weil sich der Kuchen durch elf teilt oder wird das durch das Image, dass eine Weltmarke dazukommt, kompensiert?
Wolff: Im ersten Schritt verlieren wir. Wir wissen nicht, was Cadillac in die Formel 1 investieren wird. Die Ausgleichszahlung, die derzeit bei 450 Millionen Dollar liegen soll, ist zu niedrig. Das kompensiert nicht den direkten Einkommensverlust. Nur die Zeit wird zeigen, welchen Zugewinn der Sport mit einem elften Teilnehmer hat. Wenn der steigt, dann haben alle gewonnen. Aber wir wissen es nicht. Mit mir hat niemand gesprochen, was Cadillac genau vorhat.
George Russell hat das Quali-Duell mit 19:5 gegen Lewis Hamilton gewonnen und hat auch mehr Punkte auf seinem Konto. Ist die Zeit von Hamilton abgelaufen?
Wolff: Diese Generation Auto liegt Lewis nicht so. Er bremst spät und haut das Auto aggressiv in die Ecken. Das Auto und die Reifen verzeihen das manchmal nicht. In der Qualifikation fällt das mehr auf als im Rennen. Möglicherweise kamen noch andere Einflussfaktoren dazu. Ich glaube nicht, dass er mit seinem Kopf schon bei seinem neuen Team war. Dazu ist Lewis zu professionell.
Sie haben in einem Podcast gesagt, dass mit zunehmendem Alter gewisse kognitive Fähigkeiten verloren gehen, die einem Rennfahrer dann fehlen. Viele haben das auf Hamilton gemünzt, obwohl es eine allgemeine Feststellung war. Haben Sie an sich selbst gemerkt, dass Sie im Alter im Rennauto gewisse Dinge nicht mehr so konnten wie früher?
Wolff: Das betrifft uns alle. Ich glaube aber, dass ein Top-Leistungssportler wie Lewis, der voll auf die eine Sache fokussiert ist, das lange wegschieben kann. Man sieht es am besten an Fernando [Alonso]. Der fährt mit seiner ganzen Erfahrung immer noch schnell Auto. Bei Lewis ist es ähnlich.

Max Verstappen war ein Kandidat für die Hamilton-Nachfolge. Doch der Niederländer blieb bei Red Bull.
Viele junge Fahrer fahren zwischendrin noch virtuelle Rennen. Max Verstappen ganz extrem. Ist das ein Training, das eigentlich jeder machen müsste?
Wolff: Mein Sohn ist sieben Jahre alt. Er hat zu Hause einen Kart-Simulator. Da fährt er gegen andere online Kartrennen. In Italien gibt es vier relevante Strecken. Auf einer war er noch nie gefahren. Er kannte sie aber vom Simulator. Dann haben wir dort an einem Rennen teilgenommen. Er geht auf die Strecke und ist sofort Schnellster. Dann sagt er zu mir. Ich kenne die Strecke. Ich antworte: Ja, aber nur im Simulator. Er wieder: Ich sage dir, ich war schon mal hier. Was schließen wir daraus? Die jungen Leute machen keinen Unterschied mehr zwischen Realität und virtueller Welt. Die Grafiken sind mittlerweile so gut, und die Köpfe der jungen Menschen funktionieren anders. Mein Sohn fährt manchmal 20 Kartrennen à fünf Minuten hintereinander. Da ist alles dabei, vom Start bis zum Crash. Die haben alles schon erlebt. Normalerweise müsste man diese Art Training jedem Fahrer empfehlen. Die älteren werden sich da wahrscheinlich etwas schwerer tun. Und vielleicht funktioniert es auch nicht bei jedem so wie bei Max.
Thema Verstappen: Wie lange haben Sie gehofft, dass er bei all den Turbulenzen bei Red Bull doch noch zu Mercedes kommt?
Wolff: Es gab nie einen Plan. Wir haben immer gesprochen und die Kommunikationslinie offen gehalten. Irgendwann hat er gesagt, dass er erstmal dort bleiben will, wo er ist, weil es sich für ihn richtig anfühlt. Und ich habe gesagt, wir gehen mit dem Kimi [Antonelli], weil sich das für uns auch richtig anfühlt. Und jetzt schauen wir mal, wohin uns das alles trägt.

Andrea Kimi Antonelli gibt 2025 sein Debüt. Der Italiener soll laut Wolff genug Zeit zum Lernen erhalten.
Wie groß ist das Risiko mit dem Rookie Antonelli?
Wolff: Wenn man die Erwartung hat, dass er in Melbourne auf der Pole-Position steht, das Rennen gewinnt und sofort um die Meisterschaft fährt, dann ist das Risiko groß, weil das nicht passieren wird. Wenn wir so herangehen, dass der Junge 18 Jahre alt ist, sehr talentiert, aber natürlich erst einmal da hineinwachsen muss und dabei Fehler machen wird, dann hält sich das Risiko in Grenzen. Deswegen machen wir es ja auch. Wir sehen 2025 als ein Übergangsjahr und wollen ihn für 2026 vorbereiten.
Wie können Sie die Erwartungshaltung steuern?
Wolff: Indem wir alle unsere Anteilseigner davor warnen zu glauben, dass die guten Testwerte sich einfach so ins Rennen umsetzen lassen werden.
Wie gut ist er vorbereitet?
Wolff: Er hat ungefähr 9.000 Kilometer in Formel-1-Autos abgespult.
Ist der Begriff Wunderkind gerechtfertigt?
Wolff: Ein Wunderkind ist er erst, wenn er die Leistung auch wirklich in der Formel 1 bringt. Wir hoffen, dass es früher als später passiert, aber sicher nicht gleich am Anfang.
Nächstes Jahr treten fünf Teams mit Rookies an. Warum passiert der Generationswechsel gerade jetzt?
Wolff: 2026 kommt ein neues Reglement. Darauf wollen sich die Teams vorbereiten. Deshalb bildet man die Rookies lieber schon nächstes Jahr aus. Ich glaube, ein Auslöser war das Debüt von Oliver Bearman bei Ferrari. Kommt unvorbereitet in das Auto, hat ein freies Training und fährt vorne mit. Dann hat auch noch Colapinto sofort eingeschlagen. Plötzlich hat jeder gesehen, dass die Jungen auf einem sehr hohen Niveau einsteigen.
Wie groß ist Ihr Bauchweh vor dem Neustart in der Saison 2026?
Wolff: Ich habe kein Bauchweh. Das ist eine super interessante Herausforderung. Du musst deinen Job auf allen Ebenen so gut wie möglich hinkriegen. Ein guter Motor allein bringt uns nichts. Den hat McLaren dann auch. Dann müssen wir sie beim Chassis schlagen. Wir können uns nirgendwo verstecken.