Mercedes ging ohne einen klaren Plan in den Grand Prix von Kanada. Die Strategen schwankten zwischen einem und zwei Boxenstopps. Die Papierform sprach ganz knapp für zwei Reifenwechsel. George Russell schaffte mit seinem Speed im Rennen Fakten. Es war schnell klar, dass der Engländer auf jede schnelle Runde von Max Verstappen eine Antwort haben würde. Andere Gegner gab es nicht.
Für den Mercedes-Kommandostand eine komfortable Situation: "Wir mussten uns nicht mehr selbst entscheiden, sondern haben das Rennen an Verstappen ausgerichtet." Als der Niederländer wegen starkem Körnen links vorne überraschend früh in der zwölften Runde an die Boxen abbog, zog Russell nach. Nach Verstappens zweitem Stopp in Runde 37 ließ sich Mercedes mehr Zeit. Mit einem Vorsprung von 5,2 Sekunden hatte man fünf Runden Luft zum Reagieren. Der Undercut war in Montreal keine Waffe. Es dauerte zu lange, bis die harten Reifen auf dem glatten Asphalt auf Temperatur kamen.
Mit Andrea Kimi Antonelli war die Entscheidungsfindung schwieriger. Einerseits bestand die Hoffnung, Verstappen den zweiten Platz streitig zu machen, andererseits musste man den Italiener vor Oscar Piastri schützen. Die Strategen gingen eigentlich davon aus, dass Piastri auf einem Stopp unterwegs war. "McLaren hat Piastri am Funk immer gesagt: Mach das Gegenteil von Kimi. Am Ende hatte er zu viel Körnen auf den Reifen, um das durchzuziehen."

Russell richtete seine Taktik an Verfolger Verstappen aus.
Norris und Leclerc gegen den Trend
Piastri brach das Vorhaben von einem Stopp mit seinem ersten Reifenwechsel in der 16. Runde ab. Damit war ein zweiter Boxenstopp in Stein gemeißelt. Ganz anders war die Ausgangslage für Lando Norris und Charles Leclerc. Beide gingen gegen den Trend mit harten Reifen ins Rennen. Das war eigentlich eine Taktik für die Hinterbänkler, die bei Esteban Ocon und Carlos Sainz durchaus von Erfolg gekrönt war.
Doch weder McLaren noch Ferrari zogen den Einstopp-Plan durch. McLaren glaubte offenbar, das Feld im letzten Stint von hinten aufrollen zu können. Doch die Papaya-Renner konnten diesmal ihre Vorteile bei der Reifenabnutzung nicht ausspielen. So lief es schon oft auf Strecken mit glattem Asphalt und Kurven, die den Reifen nicht groß belasten. Da bestand auch bei der Konkurrenz keine Überhitzungsgefahr.
Deshalb wäre es aus Sicht von McLaren eine gute Idee gewesen, wenigstens ein Auto auf die Alternativstrategie zu schicken. Es bot sich an, das mit Norris zu tun, da er zwar schlechter platziert, aber schneller als Piastri war. So hätte McLaren auch das Zusammentreffen seiner beiden Fahrer vermieden. Es war klar, dass das bei gleicher Taktik früher oder später passieren würde. Das Risiko eines Einstopp-Rennens war gering. Norris wäre schlimmstenfalls Fünfter geblieben.

McLaren führte seine beiden Fahrer unfreiwillig zusammen. Mit einer Einstopp-Strategie für Norris wäre es vielleicht nicht zum Crash gekommen.
Leclerc bezahlt für Freitagsunfall
Noch mehr Sinn hätte ein Einstopp-Rennen bei Charles Leclerc ergeben. Der Fahrer forderte es ein. Seine Strategen lehnten ab. Dabei hatte Ferrari nach hinten zu Fernando Alonso so viel Luft, dass man sich jede Strategie hätte leisten können. Lewis Hamilton fehlte der Speed für Experimente. Die Kollision mit einem Murmeltier hatte im rechten Unterboden einige Leitbleche in den vorderen Venturi-Kanälen abgeschlagen. Das kostete 20 Punkte Abtrieb.
Leclerc dagegen war zeitweise so schnell unterwegs wie die Spitze. Und wenn ein Auto seine Reifen schont, dann der Ferrari. Leclerc verlor mit seinen alten harten Reifen im Schnitt nur drei Zehntel pro Runde auf Russell, Verstappen und Antonelli auf frischeren Sohlen. Die hätten aber 23 Sekunden auf den Ferrari-Fahrer aufholen müssen, wenn der sich einen Stopp gespart hätte.
Ferrari verlor einen möglichen Podestplatz wie so oft schon am Samstag. Leclerc startete nur vom achten Platz. Bis er sich nach sieben Runden freigeschwommen hatte, war die Spitze schon um 13 Sekunden enteilt. Teamchef Frédéric Vasseur begründete die Entscheidung gegen ein Einstopp-Rennen damit, dass dem Team Daten fehlten, wie lange die Reifen halten würden. "Wegen des Unfalls am Freitag konnte Charles im zweiten Training nicht teilnehmen und so auch keine Longruns fahren."

Leclerc hatte nichts zu verlieren. Trotzdem wählte Ferrari die konservative Zwei-Stopp-Strategie.
Leclerc bettelte um einen Stopp
Während Hamilton schimpfte, dass man seine Boxenstopps zu lange hinausgezögert habe, begann Leclerc einen Streit mit seinem Renningenieur darüber, dass man ihn zu früh zum ersten Reifenwechsel gerufen habe. Plan B war plötzlich nicht mehr angesagt. Leclerc erklärte seinen Strategen lang und breit, dass die harten Reifen trotz 27 Runden auf der Lauffläche immer noch gut waren und viel länger gehalten hätten.
Esteban Ocon und Carlos Sainz bewiesen es. Sie hielten bis Runde 57 durch. Der späte Wechsel von Hart auf Medium war die Grundlage für ihre Zielankunft in den Punkterängen. Leclerc hätte nur sicherstellen müssen, vor Verstappen und Antonelli zu bleiben, auf keinen Fall aber zu viel Zeit auf das Spitzentrio zu verlieren. Was durchaus möglich war. Je stärker sich der zweite Satz bei der Konkurrenz abnutzte, desto mehr glichen sich die Rundenzeiten an.
Für den letzten Stint hätte Leclerc einen frischen Satz Medium in seinem Pool gehabt. Seine Gegner mussten harte Sohlen fahren. In die C5-Mischung setzte der Monegasse seine ganzen Hoffnungen. "Ich habe am ersten Stint der anderen gesehen, dass der Medium-Reifen schneller war. Er hätte auch gut gehalten. Ich hatte keine Probleme, die Reifen zu schonen. Es war ein Fehler, die gleiche Taktik zu fahren wie unsere Gegner. So konnte ich nicht besser als Fünfter werden."

Trotz eines frühen ersten Stopps brachte Nico Hülkenberg seinen zweiten Reifensatz gut über die Runden.
Hülkenbergs alternative Alternativ-Taktik
Im Mittelfeld war die Ein-Stopp-Strategie auf jeden Fall der Schlüssel zu WM-Punkten. Das zeigen die Rennen von Nico Hülkenberg, Esteban Ocon, Carlos Sainz, Yuki Tsunoda, Pierre Gasly und Gabriel Bortoleto. Alle verbesserten sich gegenüber ihrem Startplatz. Wer mit zwei Stopps plante, steckte hoffnungslos im DRS-Zug fest.
Ocon sprang von Platz 14 auf Rang 9, Sainz von 16 auf 10, Tsunoda von 18 auf 12, Bortoleto von 15 auf 14 und Gasly von einem Start aus der Boxengasse auf Platz 15. Alle hatten ab dem Moment freie Fahrt, in dem die Zweistopper ihren ersten Reifenwechsel abspulten. In Runde 24 waren mit Lance Stroll alle durch.
Ein ganz besonderes Rennen fuhr Nico Hülkenberg. Der Deutsche startete wie der Mainstream auf Medium-Reifen und kam in Runde 19 an die Box. Bis dahin sah alles nach zwei Stopps aus. Doch dann streichelte der Veteran seine harten Reifen bis ins Ziel. Und es war nicht etwa so, als hätte Hülkenberg gebummelt. Er brauchte freie Sicht nach vorne, und das ging nur mit Überholmanövern. Innerhalb von 13 Runden ging der Sauber-Pilot an Gasly, Lawson, Bortoleto und Tsunoda vorbei.
In der 48. Runde hatte er Anschluss an Ocon und Sainz gefunden, die ihren Boxenstopp noch vor sich hatten. Da waren WM-Punkte schon sicher. Es ging nur noch um die Frage, ob sechs oder vier. Hülkenberg rutschte zwar nach Fernando Alonsos zweitem Boxenstopp kurzfristig vor den Aston Martin, doch er konnte den Spanier mit dem Nachteil älterer Reifen nicht aufhalten. Alonso gewann das Duell nicht wegen seiner Zweistopp-Strategie, sondern trotz ihr. Bei der starken Reifenabnutzung des Aston Martin blieb ihm auch gar nicht anderes übrig, als zwei Mal Reifen zu wechseln.