Solange der GP England unter Renntempo lief, machte Oscar Piastri alles richtig. Der Australier ließ sich in der Anfangsphase nicht von Max Verstappen aus der Ruhe bringen, überholte ihn in der achten Runde und seilte sich schnell vom Rest des Feldes ab. Das erste wegen wolkenbruchartiger Regenfälle raubte ihm 14,4 Sekunden Vorsprung.
Piastri gewann den Re-Start und wurde durch eine weitere Neutralisation eingebremst. Als das Rennen zu Beginn der 22. Runde wieder freigegeben wurde, hatte Piastri im Handumdrehen wieder einen Respektaufstand von 3,5 Sekunden in der Hand. Jetzt hieß sein Verfolger Lando Norris. Max Verstappen hatte sich im Anlauf zum Re-Start in der Stowe-Kurve gedreht und war auf Platz 10 abgetaucht.
Kurz darauf schwebte über dem Spitzenreiter das Damoklesschwert einer Strafe. Piastri wurde ein -Vergehen vorgeworfen. Die Sportkommissare brauchten nur zwei Runden, um ein Urteil zu fällen. Piastri bekam zehn Sekunden Strafe. Begründung: Der Fahrer des Autos mit der Startnummer hatte in der Restart-Vorbereitung hinter dem unberechenbar stark gebremst und so seine Verfolger gefährdet.

Zwischen seinen beiden Restarts hatte es laut Piastri keine Unterschiede gegeben.
Von 218 auf 52 km/h abgebremst
Die Untersuchung ergab, dass Piastri auf der Hangar-Gerade plötzlich mit einem Bremsdruck von 59,2 PSI von 218 auf 52 km/h verzögert hatte. Das zwang Max Verstappen dazu, auszuweichen und den McLaren zu überholen. In der Urteilsbegründung stand: Mit seinem unberechenbaren Bremsmanöver hat der WM-Spitzenreiter Artikel 55.15 des Sportlichen Reglements verletzt und muss die dafür in den Richtlinien vorgesehene Strafe von zehn Sekunden und zwei Strafpunkten in Kauf nehmen.
Die Strafe kostete Piastri am Ende den Sieg. Als der zweite Boxenstopp von Intermediates auf Slicks anstand, durfte der Mann aus Melbourne zwar vor Norris an die Box, doch die Mechaniker mussten zehn Sekunden warten, bevor sie mit dem Reifenwechsel beginnen konnten. Eine Runde später kam Norris zum Reifen-Service. Mit einer um zwölf Sekunden kürzeren Durchfahrtszeit ging der Engländer in Führung und feierte bei seinem achten Silverstone-Start seinen ersten Heimsieg.
Piastri blieb auch im Moment der Enttäuschung die Ruhe selbst. Etwas spöttisch meinte er: "Anscheinend darf man hinter dem nicht mehr bremsen. Ich habe es vorher fünf Runden lang so gemacht. Ich werde aber nicht zu viel dazu sagen, weil ich mich sonst selbst in Schwierigkeiten bringe." Der Verband mag keine allzu harsche Kritik an den Urteilen seiner Sportkommissare.

Beim letzten Stopp musste Piastri zehn Sekunden warten. Damit war der Sieg futsch.
Gleich gebremst wie beim ersten Re-Start
Später wurde der fünffache Saisonsieger ein bisschen deutlicher. "Ich bin auf die Bremse gestiegen. Gleichzeitig gingen die Lichter des s aus, was auch extrem spät war. Und dann habe ich natürlich nicht beschleunigt, weil ich von da an als Spitzenreiter das Tempo selbst kontrollieren darf. Das Ergebnis hat man ja gesehen. Dabei habe ich nichts anders gemacht als beim ersten Re-Start. Ich bin nicht langsamer gefahren."
Der Vorfall wurde natürlich sofort mit der Szene am Ende des GP Kanada verglichen, als George Russell hinter dem ebenfalls stark abbremste und Verstappen damit zu einem Ausweichmanöver zwang. Russell kam mit einem blauen Auge davon. Die Sportkommissare begründeten den Freispruch damit, dass damals nur 30 PSI Bremsdruck vorlagen – also die Hälfte von dem, was Piastri zur Last gelegt wurde.
Dass Verstappen damit potenziell einer Gefahr ausgesetzt war, wischten die Schiedsrichter in Montreal unter den Tisch. Diesmal war es ein gewichtiges Argument. Piastri spottete: "Ich glaube nicht, dass Max mir ausweichen musste. Beim ersten Mal hatte er es ja auch geschafft. In Kanada musste er mehr ausweichen als heute." Verstappen wunderte sich nicht über die Strafe für Piastri, wohl aber, dass davor andere Fahrer mit dem gleichen Vergehen ungeschoren davongekommen waren.

Nach dem zweiten Norris-Sieg in Folge trennen nur noch acht WM-Punkte die beiden McLaren-Rivalen in der Fahrerwertung.
Piastri wartet auf drittes
Da mag eine Rolle gespielt haben, dass sich Verstappen 300 Meter später in der Stowe-Kurve drehte, als er versuchte Piastri zu folgen, der da schon das Tempo angezogen hatte. Red-Bull-Teamchef Christian Horner will einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Szenen nicht direkt von der Hand weisen. "Max war durch das Bremsmanöver von der üblichen Prozedur, Reifen, Bremsen und die Fahrzeugeinstellungen für den Re-Start zu konditionieren, etwas abgelenkt."
Andererseits empfand auch Horner die Strafe als "sehr hart". So sahen es auch die McLaren-Chefs Zak Brown und Andrea Stella. "Die Lichter am gingen extrem spät aus. Da blieb nicht viel Zeit zur Vorbereitung des Restarts. Aus unserer Sicht ist der Bremsdruck nicht ungewöhnlich hoch. Es gibt aber Fahrer im Feld, die eine Gabe haben, die Situation schlimmer aussehen zu lassen, als sie ist." Stella wünschte sich: "In solchen Fällen wäre es gut, wenn die Sportkommissare nach dem Rennen alle Beteiligten zu Wort kommen ließen, um ein faires Urteil zu sprechen."
McLaren gewährte Piastri als Spitzenreiter den früheren zweiten Boxenstopp, obwohl er auf dem Papier bereits an zweiter Stelle lag. Andererseits verweigerte man dem Australier einen Platztausch, um die alte Reihenfolge wieder herzustellen. Stella spielte die Karte Fairness: "Es wäre nicht richtig gewesen, Lando zurückzupfeifen. Er hat ja nichts falsch gemacht. Wir haben Oscar so fair behandelt, wie es ging. Wenn vor dem zweiten Boxenstopp noch ein gekommen wäre, hätten wir ihn auch zuerst an die Box geholt. Lando hätte dann auf ihn warten müssen, wodurch die Reihenfolge gleich geblieben wäre."