Wir hätten vorgewarnt sein müssen. Dieses Formel-1-Jahr begann nicht normal. Also konnte es auch nicht so enden wie die beiden Jahre davor. Haas feuert Teamchef Guenther Steiner. Ferrari verpflichtet Lewis Hamilton. Red Bull inszeniert einen Machtkampf mit einer Schmuddelaffäre um Teamchef Christian Horner im Mittelpunkt. Audi kündigt die 100-prozentige Übernahme von Sauber an, und Adrian Newey kehrt Red Bull nach 18 Jahren den Rücken. Erst ein halbes Jahr später wird seine neue Adresse bekannt: Aston Martin ködert den begehrtesten Designer der Szene mit viel Geld.
Vor nichts hatte die Formel 1 mehr Angst als einer Wiederholung der Verstappen-Show. Sie lähmte einen Unterhaltungsbetrieb, der eigentlich von der Abwechslung leben sollte. Der Niederländer war in den abgelaufenen zwei Jahren 35 von 44 Rennen gewonnen. Und in diesem Stil ging es auch zunächst weiter. Bei vier der ersten fünf Grands Prix hieß der Sieger Max Verstappen. Erst in Miami fand die Tristesse ein Ende. McLaren schaffte es, mit einem Upgrade die Vorherrschaft von Red Bull zu brechen. Und plötzlich bekamen auch Ferrari und Mercedes Rückenwind.
Schon vor dem Finale in Abu Dhabi zählt diese Saison in Bezug auf Vielfalt und Abwechslung zu den besten der Geschichte. Sieben Fahrer feierten mindestens zwei Siege. Das gab es in der Formel 1 noch nie. Es waren keine Zufallssiege. Die vier Topteams lagen oft nur drei Zehntel auseinander. Jeder gewann aus eigener Kraft.
Vergleichbares gab es nur 1981 und 1982. Ist es ein Zufall, dass diese beiden Jahre die letzten der ersten Groundeffect-Ära waren? Wahrscheinlich nicht. Diese Art Auto stößt schnell an ihr Limit. Dann findet die Entwicklung nur noch in Trippelschritten statt. Heute kommt hinzu, dass restriktive Regeln den Ingenieuren kaum Freiräume für verrückte Ideen geben. So verlegten sie sich auf das Unsichtbare. Biegsame Flügel wurden ein großes Thema. Wer den Frontflügel ab einer bestimmten Last kontrolliert verbiegt, kann sein Auto zwischen langsamen und schnellen Kurven perfekt ausbalancieren. Weiche Flügelelemente im Heck verbessern den Topspeed.

Red Bulls Dominanz gegenüber 2023 ging flöten. Dennoch wurde Max Verstappen Weltmeister.
Red Bulls Fallstricke
Red Bulls Dominanz bröckelte aus vielen Gründen. Die Konkurrenz hatte aus Fehlern gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen: Red Bull kopiert, Ingenieure aus Milton Keynes abgeworben, Windkanäle und Simulatoren modernisiert. Der Budgetdeckel, die Windkanalbeschränkungen für die Erfolgreichen und das Einfrieren der Motorentwicklung zeigen langsam Wirkung. Geld kann immer noch Rundenzeit kaufen, aber nicht mehr in dem Ausmaß wie früher.
Red Bull stolperte über eigene Fehler. Die Ingenieure versuchten, das Auto neu zu erfinden, weil ihnen eine Weiterentwicklung des Erfolgsmodells RB19 zu wenig Fortschritt versprach. "Das hätte Detailarbeit bedeutet", erklärt Technikchef Pierre Waché. "In unserem alten Windkanal haben wir Probleme, kleine Unterschiede zu messen. Deshalb waren wir auf den großen Schritt aus." Das neue Konzept aber zwang Red Bull eine Entwicklungsrichtung auf, die sich mehr und mehr als Sackgasse erwies.
Zum ersten Mal bog Red Bull schon beim GP Spanien 2023 falsch ab. Der Windkanal versprach mehr Abtrieb, aber die Balance des Autos verschob sich. Beim Einlenken drängte das Heck plötzlich nach außen. Ab dem Scheitelpunkt stellte sich Untersteuern ein. "Am Anfang nur dezent, dann immer schlimmer", blickt Verstappen zurück. Weil er in der Lage war, die Probleme zu umfahren und das Plus an Abtrieb zu nutzen, fiel der Fehler den Ingenieuren erst spät auf. Man hätte es an der Formkrise von Sergio Perez merken müssen, deren Beginn zeitlich mit dem Barcelona-Upgrade von 2023 zusammenfiel. Aber Perez nahm keiner ernst.

Viele Upgrades am Red Bull RB20 zeigten nicht die gewünschte Wirkung.
Upgrades schlagen fehl
Mit jedem weiteren Entwicklungsschritt verschlechterte sich die Fahrzeugbalance, wurde das Fenster, in dem der neue Red Bull RB20 funktionierte, immer enger. Bis selbst das Fahrgenie Verstappen nichts mehr kompensieren konnte. Monza war der Tiefpunkt. Seitdem setzt Red Bull das Unterboden-Patchwork so zusammen, dass sich das Fahrverhalten beruhigte. "Es ist immer noch nicht perfekt, aber wir können mit Max wieder vorne mitfahren", atmete Sportchef Helmut Marko in Austin auf.
Zu den technischen Problemen kamen zwischenmenschliche Reibereien. Teamchef Horner versuchte, mithilfe der thailändischen Mehrheitseigner Sportdirektor Marko loszuwerden. Der österreichische Part wehrte sich mit Enthüllungen über angeblich unangemessenes Verhalten von Horner gegenüber einer Angestellten. Verstappen setzte der Horner-Fraktion die Pistole auf die Brust: "Wenn Marko gehen muss, bin auch ich weg." Andere suchten das Weite. Innerhalb von 18 Monaten verließen Technikguru Adrian Newey, Chefdesigner Rob Marshall, Chefmechaniker Lee Stevenson, Strategiechef Will Courtenay und Sportdirektor Jonathan Wheatley das Team.
Seitdem herrscht ein Burgfriede. Horner muss seinen Traum, selbst Anteile am Team zu erwerben, aufschieben, bis Markos Vertrag Ende 2026 ausläuft. Er hat verstanden, dass er Verstappen braucht. Nur dessen Ausnahmetalent garantiert ihm auch in schlechten Zeiten den Erfolg, ohne den ihn die Yoovidhya-Familie fallenlassen würde. Die Verteidigung des Fahrer-Titels geht zu einem hohen Anteil auf das Konto von Verstappen. Er holte auch dann das Maximum heraus, wenn das Auto unpässlich war. Auf der anderen Seite verspielten WM-Gegner Lando Norris und sein Team den ein oder anderen Sieg, als der McLaren klar überlegen war.

McLaren stellte mit dem MCL38 das beste Auto der Saison 2024.
McLarens große Wende
Für die Konstrukteurs-WM reicht ein überragender Fahrer nicht. Je kritischer das Fahrverhalten des RB20 wurde, desto mehr fiel Sergio Perez in sein Formtief. Da half auch ein neuer Vertrag als Beruhigungspille nicht mehr. Als die Rufe nach Ablöse immer lauter wurden, kam bei Perez eine Kopfkrise dazu. Red Bull hätte sein Sorgenkind gerne auf die Ersatzbank gesetzt, doch das ließ der Vertrag nicht zu. McLaren und Ferrari hatten gegen das Einmann-Team Red Bull leichtes Spiel. Beide Fahrer waren siegfähig, beide punkteten regelmäßig zweistellig.
McLaren schrieb eine fast unglaubliche Geschichte. Seit dem GP Österreich 2023 zeigt die Formkurve steil bergauf. Jede Ausbaustufe war ein Schritt nach vorne, die von Miami ein Volltreffer. Danach verlegten sich die McLaren-Ingenieure darauf, ein überragendes Paket im Detail zu verbessern. Ohne das Risiko, auf die Nase zu fallen. Rob Marshall erwies sich schnell als echter Gewinn. Wie einst bei Red Bull fischt er in den Grauzonen des Reglements. Flexible Karbonstrukturen sind sein Spezialgebiet. Angeblich war er auch 2018 und 2019 der Kopf hinter dem Trick, Wasser in die Reifen zu füllen, um die Karkasse zu kühlen. Damals noch geduldet, heute nicht mehr.
Als McLaren immer besser wurde und Red Bull Mühe hatte, mit seinem RB20 auf den rechten Weg zurückzufinden, verdächtigten sich die beiden Teams gegenseitig, unerlaubte Technik einzusetzen. Die Schlammschlacht erinnerte an das Jahr 2021, als sich Red Bull und Mercedes abseits der Rennstrecke genauso hart bekämpften wie auf der Piste. Die biegsamen Heckflügel-Flaps musste McLaren abbauen. Der Höhenverstellung der Unterboden-Kufe im Cockpit des Red Bull ließ der Fantasie bei McLaren freien Lauf. Sie unterstellten dem Gegner, heimlich im Parc fermé die Höhe anzupassen. Red Bull lief bei der FIA Sturm, weil man Wasser an den Rändern der McLaren-Felgen beobachtet haben wollte. Nach einer Untersuchung richtete der Verband aus, dass es für beide Verdächtigungen keinerlei Anhaltspunkte gebe.

Haas schaffte 2024 den Sprung vom letzten Platz in der Konstrukteurs-Wertung auf Rang sieben.
Haas-Aufschwung 2024
McLaren war nach so vielen Jahren in der Versenkung noch nicht bereit, die Favoritenrolle zu nutzen. Vielleicht hätte man in Montreal, Silverstone und Monza gewinnen müssen, blickt McLaren-Chef Zak Brown zurück, aber der WM-Titel für Norris wurde nicht dort und auch nicht mit der Stallregie zugunsten von Oscar Piastri in Budapest verloren, sondern in den ersten fünf Rennen, aus denen Verstappen 110 Punkte mitnahm und Norris nur 58.
Haas schaffte mit 280 Mitarbeitern und 20 Millionen Dollar unter dem Kostendeckel eine kaum für möglich gehaltene Wende. Der Letzte der Vorsaison stellte sein Auto auf den Kopf. Aus einem Reifenfresser wurde ein Reifenstreichler. Das Geheimnis: Eine stabile Aerodynamik und eine neue Hinterachse, die von Ferrari kam. Ferraris Aufschwung half auch Haas. Nico Hülkenberg landete regelmäßig in den Punkterängen, was eine gute Absprungbasis war, sich ab 2025 für drei Jahre an Audi zu binden. Er ist die Identifikationsfigur für einen Konzern, dessen bislang größtes Motorsport-Projekt mit viel Skepsis betrachtet wurde und wird. Daran ist die schlechteste Saison in der Firmengeschichte von Sauber nicht unschuldig. Es wird eine Titanenaufgabe, in Hinwil die Wende einzuleiten.
Mit seinen 37 Jahren zählt Hülkenberg neben Fernando Alonso (43) und Lewis Hamilton (39) zu den älteren Semestern im Feld. Die alte Garde kam in dieser Saison unter Druck. Daniel Ricciardo, Kevin Magnussen und Valtteri Bottas verloren ihren Job. Liam Lawson, Oliver Bearman und Franco Colapinto fanden sich auf Anhieb in der Königsklasse zurecht. Mercedes ersetzt Hamilton 2025 nicht mit Carlos Sainz, sondern mit Wunderkind Andrea Kimi Antonelli. Wunschpilot Verstappen bleibt Red Bull treu. Auf jeden Fall mal bis 2026.

Ferrari war das erfolgreichste Team der zweiten Saisonhälfte. Dennoch reichte es nicht zum WM-Titel.
Ferraris leises Comeback
Ferrari hielt sich aus allen politischen Scharmützeln heraus, was für das politischste Team im Feld schon mal eine Leistung ist. Teamchef Frédéric Vasseur gab die Order aus: "Der Fokus liegt allein auf uns." Ferrari machte seinen großen Schritt im Winter. Man transferierte ein höchst launisches Auto mit hohem Reifenverschleiß in ein berechenbares mit langem Leben für die Reifen. Aus einem schnellen Auto für eine Runde wurde ein Dauerläufer, der keine exponierten Schwächen mehr hatte. So schwamm Ferrari lange im Spitzenpulk mit, bis die Gegner sechs Rennen vor Schluss plötzlich merkten, dass da neben Red Bull und McLaren noch eine dritte Kraft im Spiel war.
Im Rückblick trauerte Ferrari einer einzigen Fehlentwicklung nach. Der Unterboden, der in Barcelona debütierte, brachte das Bouncing zurück. Ferrari reagierte schnell, gestand sich den Fehler ein, ging auf Los zurück und baute auf dieser Basis etwas Besseres, das in Monza Premiere feierte. Trotzdem gingen im Sommerloch vier Rennen verloren. "Wir hatten immerhin den Mut, einen Schritt zurück zu machen", lobte Vasseur sein Technikbüro.
Charles Leclerc fuhr mit Prestige-Siegen in Monte Carlo, Monza und Austin seine bislang beste Saison. "Den größten Fortschritt habe ich beim Reifenmanagement gemacht", gab Leclerc zu. Carlos Sainz hatte zwischendrin ein kleines Tief, weil er schwer an der Entscheidung von Ferrari nagte, Hamilton ihm vorzuziehen. Und weil er nicht verstehen wollte, dass auch bei Red Bull und Mercedes kein Platz für ihn frei war. Erst als er nach einer fünfmonatigen Hängepartie endlich Williams sein Ja-Wort gab, saß wieder der echte Sainz im Ferrari-Cockpit.

Vier Siege feierte Mercedes 2024. Trotzdem rutschte man auf Platz vier bei den Herstellern ab.
Mercedes als vierte Kraft
Mercedes rutschte an die vierte Stelle ab. Lewis Hamilton und George Russell gaben dem Basismodell nach dem ersten Test gute Noten, doch es dauerte bis zum Juli, bis die Silberpfeile endlich wieder Rennen gewannen. Auch hier brachte ein neuer Unterboden und ein biegsamer Frontflügel den Durchbruch. Hamilton schrieb mit seinem ersten Sieg nach 945 Tagen ausgerechnet in Silverstone ein modernes PS-Märchen. Trotzdem kratzte diese Saison am Lack des Rekordsiegers. Russell gewann haushoch das Quali-Duell.
Kaum hatte man Mercedes als Siegerteam auf dem Zettel, war es auch schon wieder vorbei. Zwei weitere Unterboden-Entwicklungen liefen ins Leere. Der Mercedes W15 blieb ein launisches Auto, das zwischen Exzellenz und Niete schwankte. Las Vegas war das beste Beispiel. Dort passten Strecke, Temperaturen und Asphalt. Mercedes gewann.
Die Enttäuschung der Saison war Aston Martin, wo jedes Upgrade ein Rückschritt war. Die Aerodynamiker präsentierten Rekord-Abtriebswerte, die aber nicht auf der Strecke ankamen. Das zu Saisonbeginn noch fünftschnellste Auto taugte am Ende kaum noch für WM-Punkte.
Das Podest blieb bis auf das Chaosrennen in Brasilien für die vier Topteams reserviert. Dabei lag die zweite Hälfte des Feldes höchstens eine halbe Sekunde zurück. Bis auf Sauber war jeder in der Lage, ins Q3 aufzusteigen oder in die Punkte zu fahren. Lange ließen die großen vier nur Almosen für den Rest übrig. In dieser Phase etablierte sich Haas als das beste Team im Verfolgerfeld. Der US-Rennstall musste höchstens Toro Rosso fürchten. Dann reichte ein verrücktes Regenrennen in Brasilien aus, um Alpine zurück ins Spiel zu bringen. Die Franzosen sprangen mit einem 35-Punkte-Satz von Platz 9 auf Rang 6. Sanierer Flavio Bria-tore weiß: Für ein Comeback der Marke braucht es mehr als nur ein Rennen.