Es ist das Dilemma des Rennsports: Selbst, wenn ein Pilot Wunderdinge im Cockpit vollbringt, ist das von außen nur schwer nachzuvollziehen. Dass der Grand Prix von Bahrain für George Russell kein normales Rennen war, blieb dem Zuschauer aber nicht verborgen. Der Name des Piloten sprang in der Zeitentabelle wild hin und her. Was das aber für den Fahrer selbst bedeutete, wurde erst später klar.
Die eingespielten Funksprüche gaben einen ersten Hinweis auf die Probleme. Renningenieur Marcus Dudley erklärte seinem Schützling, wie er die ausgefallene DRS-Automatik ausschaltet und in den manuellen Modus wechselt. Dann meldete der Pilot auch noch Probleme mit den Bremsen an den Kommandostand. Weil Russell trotz der technischen Gebrechen den zweiten Podiumsplatz sicherte, konnten die Fans aber kaum einschätzen, wie dramatisch die letzten Runden hinter dem Lenkrad verliefen.
Mittlerweile haben die Mercedes-Ingenieure die Daten studiert. Kommunikationschef und Team-Repräsentant Bradley Lord gewährt einen kleinen Einblick, was wirklich im Cockpit abgelaufen ist: "In der TV-Berichterstattung mag der Eindruck aufgekommen sein, dass nur die letzten zehn Runden betroffen waren. Aber die ersten Probleme sind schon zur Rennhalbzeit aufgetreten", verrät der Brite.

George Russell brachte trotz vieler Probleme im Cockpit einen zweiten Platz nach Hause.
Ursache für Probleme noch unklar
Die Techniker haben in der Zentrale in Brackley sofort versucht, den Problemen auf den Grund zu gehen. Noch gibt es aber keine genauen Erkenntnisse: "Wir haben die Ursache noch nicht gefunden", erklärt Lord. "In der Fabrik haben wir gerade erst begonnen, zehn Koffer mit Teilen auszupacken. Darunter ist auch der ziemlich demolierte und verkohlt aussehende FOM-Transponder für die Zeitmessung sowie Komponenten des Brake-by-Wire-Systems."
Am Mercedes-Kommandostand hatte man schon früh im Rennen bemerkt, dass etwas nicht stimmt. "George ist plötzlich in der Zeitentabelle abgestürzt. Wir haben aber gesehen, dass er noch auf der Strecke unterwegs war und sich normal am Funk gemeldet hat. Es musste sich also um ein Problem mit der Zeitmessung handeln. Das hatte allerdings auch Auswirkungen auf andere Systeme, wie zum Beispiel den DRS-Mechanismus."
Ohne Zeitmessung konnte das System nicht mehr erkennen, ob der Fahrer innerhalb einer Sekunde zum Vordermann liegt, was zur automatischen Freigabe des Klappflügels führt. "Wir mussten also auf ein Backup-System zurückgreifen, brauchten dafür aber die Freigabe der FIA. George hat das DRS dann in einem manuellen Modus bedient."

Trotz der Systemausfälle durfte sich Russell in den letzten Runden keinen Fehler leisten.
Brake-by-Wire spielt verrückt
Das DRS war aber nicht die einzige Sorge von Russell in der zweiten Rennhälfte: "Wir haben gleichzeitig, aber unabhängig davon, ein Problem mit dem Brake-by-Wire-System festgestellt. Die Elektronik bestimmt hier die Verteilung der Bremskraft zwischen Vorder- und Hinterachse. Es wird aber auch geregelt, wie viel Bremskraft die MGU-K über den Elektro-Antrieb am Motor generiert und wie viel über das hydraulische System gebremst wird."
Durch den Ausfall des Systems konnte Russell plötzlich nicht mehr die MGU-K zum Verzögern des Autos nutzen: "Wir sind dann in den sogenannten passiven Modus gegangen, bei dem man ausschließlich auf die hydraulischen Bremsen zurückgreift. Das verändert aber das Verhalten des Autos beim Bremsen und macht das Fahrern sehr schwierig. Man verliert jede Menge Bremskraft und die hydraulischen Bremsen überhitzen."
In den letzten zehn Runden musste Russell während der Fahrt immer wieder zwischen dem aktiven und dem passiven Modus des Brake-by-Wire-Systems hin- und herschalten, und dabei versuchen, die Bremspunkte zu treffen und seine Verfolger in Schach zu halten. Dabei fuhr immer die Sorge mit, dass der waidwunde Silberpfeil vielleicht irgendwann komplett den Geist aufgibt.

Die FIA verzichtete auf eine Strafe für die unerlaubte DRS-Aktivierung.
Erklärung für DRS-Aktivierung
"Wir hatten die Befürchtung, dass das Dashboard komplett ausfallen könnte. Für diesen Fall gibt es Backup-Systeme, damit der Fahrer weiterhin schalten, das DRS bedienen und funken kann. Allerdings liegt die Aktivierung für das Ersatz-Funksystem nicht auf dem Lenkrad, sondern auf einem Knopf unten im Cockpit", verrät Lord. Hier liegt auch der Grund für die unabsichtliche DRS-Aktivierung, die nach dem Rennen eine FIA-Untersuchung zur Folge hatte.
"Der Knopf für den Funk ist gleichzeitig auch für das manuelle DRS-Backup zuständig. Während George also versucht hat, das Ersatz-Funksystem für den Notfall zu aktivieren, hat er mit Drücken des Knopfes auch unabsichtlich das DRS auf der Gegengerade geöffnet. Er hat es sofort bemerkt, hat gebremst, das DRS wieder geschlossen und ist weitergefahren. Dann hat er es uns über Funk mitgeteilt."
Die FIA erkannte die besonderen Umstände und sprach trotz der unerlaubten Klappflügel-Öffnung keine Strafe aus. Für DRS-Probleme, die durch einen Transponderausfall verursacht wurden, gab es bereits einen Präzedenzfall. 2018 waren in Baku gleich mehrere Fahrer betroffen. Alle kamen damals ohne Strafe davon. Im Fall von Russell konnte Mercedes über die Telemetrie außerdem nachweisen, dass durch die DRS-Aktivierung kein Vorteil erlangt wurde.
Dass der Engländer mit den vielen Problemen den zweiten Platz nach Hause fuhr, gleicht einem kleinen Wunder: "Er war wie ein Zirkusartist, der gleichzeitig mit mehreren Tellern jongliert. Die Leistung war deshalb so beeindruckend, weil er nicht nur die mentale Kapazität benötigte, um die Probleme zu lösen, sondern gleichzeitig auch noch fahren musste, dabei fehlerlos blieb, sich gegen Lando verteidigte und Leclerc außerhalb der Schlagdistanz hielt. Das war eine unglaubliche Leistung."