Die Stimmung war bedrückt, als die Zielflagge zum ersten Testtag fiel. "Nicht schon wieder", tönte es rauf und runter im Fahrerlager. Max Verstappen führte die Rangliste mit dem riesigen Vorsprung von 1,14 Sekunden auf Lando Norris im McLaren und mit 1,24 Sekunden auf Charles Leclerc im Ferrari an. Auch als er nach zwei Abkühlrunden mit dem gleichen Reifensatz noch einmal aufs Tempo drückte, unterbot er die Bestzeiten der anderen noch um vier Zehntel.
Der Weltmeister war schnell unter allen Bedingungen. In der Mittagshitze und in den kühleren Abendstunden, als die Asphalttemperatur um zehn Grad sank. In den Longruns machte der Red Bull wie üblich eine noch souveränere Figur. Für die Konkurrenz war das wie ein Schlag ins Gesicht. Da hatte man das Meisterauto in seinen Eckdaten so gut wie möglich kopiert und mit eigenen Interpretationen versehen, doch dann erfand Red Bull das Groundeffect-Auto einfach neu und hatte aus dem Stand Erfolg damit.
Mutiger Schritt als Gesetz der Logik
Der mutige Schritt des Klassenbesten überraschte alle, nur Technik-Guru Adrian Newey nicht. "Wir wussten, dass uns die anderen kopieren würden. Wenn wir einfach nur das Vorjahresauto weiterentwickelt hätten, wäre das nicht genug gewesen." Andere Teams würden wahrscheinlich drei Testtage brauchen, um eine vergleichbare Neukonstruktion zu verstehen und richtig einzustellen. Red Bull genügen ein paar Runden. Und obwohl das Auto auf den Kopf gestellt wurde, läuft es schon wie ein Uhrwerk. Verstappen drehte 143 Runden.
Da ist es auch völlig zweitrangig, was jetzt mit Teamchef Christian Horner passiert. Red Bull wird auch ohne ihn vorne mitfahren. Es sind die Ingenieure, die in diesem Team die richtigen Entscheidungen treffen. Im Detail und beim großen Bild. Das zeigt sich einmal mehr beim RB20.
Fokus auf Aerodynamik über dem Boden
Das Hauptgewicht lag nicht darin, mehr Abtrieb über den Unterboden zu gewinnen. Red Bull hat kapiert, dass die Entwicklungsmöglichkeiten dort begrenzt sind, weil man unter dem Auto nicht unbegrenzt Abtrieb finden kann, ohne dass einen das Bouncing einbremst.
Red Bull hat sich deshalb auf den Teil des Autos über der Bodenplatte konzentriert. Der dort gewonnene Anpressdruck ist unkritischer. Die Seitenkästen arbeiten wie ein zusätzlicher Flügel. Dazu brauchte es eine vorgelagerte Crashstruktur, einen Undercut über die gesamte Länge der Seitenkästen, eine Art Flügelprofil der Seitenteile und ein völlig neues Kühlsystem.
Im Zentrum des Autos versuchte Red Bull, die Luft zu beruhigen, und dachte eine Mercedes-Idee zu Ende. Unterhalb der Airbox sorgen nicht nur zwei Wülste für eine kontrollierte Strömung Richtung Heckflügel und Beam-Wing, sondern auch ein integrierter Luftschacht dafür, dass die schlechte Luft hinter dem Cockpit abgesaugt wird. Das erlaubt weniger Flügel im Heck und reduziert den Luftwiderstand. Der Red Bull war mit 4 km/h Vorsprung erneut das schnellste Auto auf den Geraden.
Frische Reifen am Abend helfen
Trotz der überlegenen Vorstellung am ersten Testtag versucht Red-Bull-Sportchef Helmut Marko zu relativieren. "Der Vorsprung ist nicht so groß, wie er aussieht. Wir waren die Einzigen, die in den kühlen Abendstunden mit frischen Medium-Reifen auf die Strecke gegangen sind. Das erklärt den großen Sprung, den wir am Nachmittag gemacht haben."
Für Marko ist das Ergebnis vor der Mittagspause repräsentativer. Da sind alle unter vergleichbaren Bedingungen gefahren. Schlussfolgerung: "Wir schätzen den tatsächlichen Vorsprung auf drei Zehntel ein." Bei den Rechteinhabern und der Konkurrenz wird man beten, dass der Grazer Recht hat. Noch so eine Saison wie letztes Jahr oder eine noch schlimmere hält die Formel 1 nicht aus.
Auch wenn das Verfolgerfeld noch enger zusammen liegt als 2023. Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin liest aus den Daten: "Ferrari, McLaren, Aston Martin und uns trennt fast nichts. Eines ist aber auch klar. Red Bull hat die Nase vorne"
Nachbau des Red Bull unmöglich
Die Analyse fällt schwer, weil die Teams am ersten Testtag mit unterschiedlichen Programmen ausrückten. Mercedes konzentrierte sich nach Aerodynamiktests und Setup-Arbeit hauptsächlich auf Longruns. Ferrari verzichtete auf Dauerläufe, tankte aber offenbar auch nie wirklich ab.
George Russell beruhigte alle Pessimisten: "Es war ein Tag, um das Auto zu verstehen und keiner um Bestzeiten zu fahren." Mercedes notierte immerhin, dass der W15 konstanter und berechenbarer ist als seine Vorgänger und dass er sich einfacher abstimmen lässt. Ob das ausreicht? "Wenn das Auto angenehmer zu fahren, aber dafür langsam ist, wäre uns nicht geholfen", warnte Teamchef Toto Wolff.
Eines ist aber jetzt schon klar. Die Zeiten von Red Bull hätte man auch unter den besten Bedingungen nicht fahren können. So wird wohl auch diese Saison wieder eine Aufholjagd. Dumm ist nur, dass sich dieser Red Bull während der Saison nicht kopieren lässt. Man müsste zu viele Dinge in der Architektur des Autos ändern. Das erlaubt der Kostendeckel nicht.
Fahrer | Team | Zeit | Abstand | Runden | Reifen |
1. Max Verstappen | Red Bull | 1:31.344 min | 143 | C3 | |
2. Lando Norris | Mclaren | 1:32.484 min | + 1.140s | 73 | C3 |
3. Carlos Sainz | Ferrari | 1:32.584 min | + 1.240s | 69 | C3 |
4. Daniel Ricciardo | Toro Rosso | 1:32.599 min | + 1.255s | 52 | C3 |
5. Pierre Gasly | Alpine | 1:32.805 min | + 1.461s | 61 | C3 |
6. Lance Stroll | Aston Martin | 1:33.007 min | + 1.663s | 54 | C3 |
7. Charles Leclerc | Ferrari | 1:33.247 min | + 1.903s | 64 | C3 |
8. Fernando Alonso | Aston Martin | 1:33.385 min | + 2.041s | 77 | C3 |
9. Oscar Piastri | Mclaren | 1:33.658 min | + 2.314s | 57 | C3 |
10. Zhou Guanyu | Sauber | 1:33.871 min | + 2.527s | 63 | C3 |
11. Logan Sargeant | Williams | 1:33.882 min | + 2.538s | 21 | C3 |
12. George Russell | Mercedes | 1:34.109 min | + 2.765s | 122 | C2 |
13. Yuki Tsunoda | Toro Rosso | 1:34.136 min | + 2.792s | 64 | C3 |
14. Valtteri Bottas | Sauber | 1:34.431 min | + 3.087s | 68 | C3 |
15. Alexander Albon | Williams | 1:34.587 min | + 3.243s | 40 | C3 |
16. Esteban Ocon | Alpine | 1:34.677 min | + 3.333s | 60 | C2 |
17. Kevin Magnussen | Haas | 1:35.692 min | + 4.348s | 66 | C3 |
18. Nico Hülkenberg | Haas | 1:35.906 min | + 4.562s | 82 | C3 |