Noch ist nicht viel kaputt. Max Verstappen liegt in der WM-Wertung auf dem zweiten Platz, acht Punkte hinter Lando Norris. Shanghai-Sieger Oscar Piastri rangiert sogar zwei Positionen hinter dem Titelverteidiger. Und trotzdem steigt bei Red Bull der Druck auf dem Kessel mit jeder Trainingssitzung, jedem Qualifying und jedem Rennen in der Formel 1.
Dieser Red Bull RB21 ist noch nicht das Siegerauto, das man Max Verstappen versprochen hat. Im Prinzip trägt er die gleichen Defizite in seiner DNA wie sein Vorgänger. Sie mögen etwas weniger stark ausgeprägt sein, man mag sie mit dem Setup einfacher kompensieren können, doch unter dem Strich muss sich Red Bull eingestehen: Die neuen Probleme sind die alten.
Und das war noch nie ein gutes Zeichen. Es heißt im Umkehrschluss, dass die Ingenieure auch über den Winter keine Lösung dafür gefunden haben, was sie seit Imola im letzten Jahr umtreibt. Dieser Red Bull kann an einem Tag oder in einem Stint ein gutes Formel-1-Auto sein, aber am nächsten Tag oder mit einer anderen Reifenmischung ein schlechtes.

Max Verstappen kam in China nicht über Platz vier hinaus.
Zu viel Vorsicht nach Sprint-Pleite
Der GP China war ein Spiegelbild dieser Geschichte. Auf den Medium-Reifen war Verstappen auf dem sechsten Platz betoniert. Kaum lief der RB21 auf der harten C2-Mischung, konnte Verstappen die Ferrari überholen, den Rückstand auf George Russell verkürzen und die Rundenzeiten der McLaren egalisieren. Wobei hier gesagt werden muss, dass Lando Norris die letzten zehn Runden mit einem Handicap unterwegs war, und Oscar Piastri an der Spitze nicht schneller fuhr als er musste.
Verstappens Rennen war von den Erfahrungen aus dem Sprint geprägt. Da ist er das Rennen zu schnell angegangen, hat mit starkem Körnen an den Vorderreifen bezahlt und den zweiten Platz am Schluss noch an Piastri verloren. Deshalb ließ er es im Hauptrennen auf den Medium-Reifen vergleichsweise ruhig angehen. Doch auf dem sechsten Platz steckte er automatisch mitten im Verkehr und den Turbulenzen. Deshalb hielt er Abstand zu den Ferrari und zeigte mit seiner Runde vor dem Boxenstopp, dass er sich zu stark zurückgehalten hatte. Die war deutlich besser als alles, was er vorher aufs Parkett gelegt hatte.
Weil keiner mit den harten Reifen Erfahrung hatte, blies der Weltmeister auch im zweiten Stint nicht gleich zur Attacke. Erst in den letzten 20 Runden wachten Verstappen und sein Auto auf. "Da haben wir den Abstand zum Sieger um zwei Sekunden verkürzt", versuchte Teamchef Christian Horner bei seinem Fahrer Plus-Punkte zu sammeln. Verstappen bestätigte: "Auf den harten Reifen war das Auto besser. Noch nicht so gut, wie es sein sollte, aber doch ein positiver Trend."

Teamchef Christian Horner sieht den Red Bull RB21 besser als viele Experten einschätzen.
Horner stellt RB21 in besseres Licht
Es fiel auf, dass die Red-Bull-Bosse bemüht waren, das Auto in ein besseres Licht zu stellen als es ist. Horner erinnerte an den Samstag: "Max fehlten nur 0,176 Sekunden auf die Pole-Position. Und wären wir nach dem Sprint in der Anfangsphase des Rennens nicht übervorsichtig gewesen, hätten wir auf das Podest fahren können. Wie in Melbourne waren wir in der zweiten Rennhälfte wieder stark. Man kann also nicht von einem schlechten Auto sprechen."
Laut Horner ist der Abstand zu McLaren nicht so groß, wie er gemacht wird. Das muss er auch sagen, weil er genau weiß, was seinen Star-Piloten umtreibt. Sportchef Helmut Marko spricht es aus: "Max will gewinnen. Und er will das Gefühl haben, dass man das Maximum dafür tut. Wenn er dieses Gefühl nicht hat, dann besteht die Gefahr, dass er sich anders orientiert."
Siegfähig heißt bei der aktuellen Leistungsdichte nicht, dass sich das Jahr 2023 wiederholen muss. Es heißt jedoch, dass Verstappen hin und wieder aus eigener Kraft gewinnen können muss, um anderswo maximale Schadensbegrenzung zu betreiben. Bis jetzt ist Red Bull erst bis zur Schadenbegrenzung gekommen.

Liam Lawson kommt mit dem Red Bull überhaupt nicht zurecht und fürchtet bereits um seinen Platz.
Verstappens Verbleib ist eine Existenzfrage
Für Red Bull ist der Verbleib des Niederländers eine existenzielle Frage. Wenn Verstappen geht, wer soll ihn ersetzen? Aus dem eigenen Fahrer-Pool ist keiner in der Lage dazu. Die Topfahrer sind mit Ausnahme von George Russell alle bei der Konkurrenz unter Vertrag. Und der Engländer unternimmt zurzeit alles, Mercedes davon zu überzeugen, dass man Verstappen nicht braucht. Die Möglichkeit, dass er vierfache Weltmeister an die Tür klopfen könnte, wirkt auf Russell wie Doping. Die ersten beiden Qualifikationen und Rennen des Jahres kann man kaum besser bestreiten, als er es getan hat.
Red-Bull-Sportchef Helmut Marko kündigte für die Woche nach Shanghai ein Meeting in Milton Keynes mit allen Verantwortlichen an. Das Wort Krise wird dabei noch nicht in den Mund gekommen. Doch die Ingenieure werden Rapport erstatten müssen, wie sie dem RB21 seinen Launen austreiben wollen und was zu welchem Zeitpunkt an neuen Teilen kommt.
Auch das Thema zweiter Fahrer kommt auf den Tisch. Liam Lawson wurde mit einer umgebauten Fahrzeugabstimmung aus der Boxengasse ins Rennen geschickt. So wollte man sich die Gelegenheit geben, Daten zu sammeln, um seine Probleme besser zu verstehen und dem Fahrer ermöglichen, sein eigenes persönliches Setup-Fenster zu finden. Mit dem Verstappen-Fenster fuhr der Neuseeländer in eine Sackgasse.
Horner wollte sich nicht darauf festnageln lassen, dass ein Tausch gegen Yuki Tsunoda schon beim nächsten Rennen in Japan (6.4.) erfolgt. Doch die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern. Red Bull kann es sich nicht leisten, auf Dauer als Ein-Mann-Team zu agieren. Schon der letzte Konstrukteurstitel in der Vorsaison ging nur deshalb verloren, weil das zweite Auto zu wenig Punkte beigesteuert hatte.

Red Bull muss Verstappen ein Siegerauto bauen, sonst könnte der Weltmeister das Team verlassen wollen.
Verstappen prägt die DNA des Autos
Horner gab zu, dass ein Ausnahmepilot wie Verstappen auch eine Last sein kann. Nicht nur, weil er viele Probleme mit seiner Klasse überfährt und die Ingenieure oft erst mit Verspätung merken, dass ihr Auto nicht so gut ist, wie es Verstappens Rundenzeiten aussehen lassen.
Die großen Unterschiede zwischen dem 63-fachen GP-Sieger und seinen Teamkollegen lenkt die Fahrzeugentwicklung automatisch auf eine schiefe Ebene. Horner erinnerte noch einmal an die Saison 2023, als Sergio Perez mit zwei Siegen stark begann, bis in Barcelona ein Upgrade alles auf den Kopf stellte.
Zu Saisonbeginn war das Auto noch gutmütig, mit der leichten Tendenz zum Untersteuern. Verstappen hasst Untersteuern. Also musste es weg. Dazu kam, dass der neue Unterboden nicht nur die Charakteristik des RB19 veränderte, sondern auch mehr Abtrieb spendete. Verstappen war schneller damit. Das zählte. Perez musste sich anpassen und schauen, wo er bleibt.

Wie reagiert Mercedes, wenn Verstappen doch noch anklopft?
Gutmütiges Auto gesucht
Damit war die Entwicklungsrichtung für die Ingenieure vorgegeben. Die liefen erst gegen eine Wand, als das Fahrverhalten so instabil wurde, dass selbst ihr Ausnahmefahrer Probleme bekam.
Doch diese DNA steckt jetzt im Auto, und die große Preisfrage lautet: Wie schafft man die Gen-Manipulation, um den Red Bull zu zähmen? Horner verteidigt seine Technikabteilung: "Sie versucht immer das schnellstmögliche Auto zu bauen. Die Rundenzeit entscheidet, nicht die Vorlieben eines Fahrers. Das hat sich in unserer Teamgeschichte ja auch mit 122 Siegen ausgezahlt."
Doch wenn am Ende selbst Verstappen nicht mehr in der Lage ist, den Red Bull aufs Podium zu stellen, wird die Luft dünn. Marko bestätigte in Shanghai noch einmal öffentlich, dass der Vertrag des Niederländers leistungsbezogene Klauseln enthält. Sprich: Wenn Red Bull kein siegfähiges Auto baut, kann der Fahrer gehen. McLaren-Boss Zak Brown sorgte mit der Prognose, dass Verstappen nächstes Jahr für Mercedes fährt, schon für ordentlich Unruhe im Fahrerlager.
Bei Mercedes will man das Thema Verstappen am liebsten gar nicht mehr ansprechen. "Wir wollen mit unseren aktuellen Fahrern in die Zukunft gehen", erklärte Teamchef Toto Wolff. Auf die Red-Bull-Formkrise und die möglichen Verstappen-Ausstiegsklauseln angesprochen, wiegelte der Österreicher ab: "Die Frage stellt sich aktuell nicht." Doch sollte Red Bull seinen Fahrer tatsächlich vergraulen, muss Wolff die Frage irgendwann beantworten. Kann es sich Mercedes leisten, den besten Fahrer der Welt abzulehnen?