Die 60. Runde in Monte Carlo brach an, und alle Beobachter schüttelten den Kopf. 14 der 18 Fahrer im Feld hatten bereits ihre zwei Pflicht-Boxenstopps abgespult. Die Red-Bull-Piloten waren immerhin ein Mal an der Box. Nur bei Mercedes rührte sich nichts. Und alle fragten sich: Schlafen die Taktik-Experten am Kommandostand?
Zuvor hatte George Russell bereits eine Durchfahrtstrafe kassiert, weil er Alexander Albon durch Abkürzen der Schikane überholt hatte, aber die Position nicht mehr zurückgab. Die Durchfahrt durch die Box zählte natürlich nicht als Reifenwechsel. Erst in der 62. Runde bog der Engländer zum ersten Service an die Boxen ab. Sechs Runden später zum zweiten Mal. Teamkollege Andrea Kimi Antonelli wartete bis zu den Runden 69 und 71.
Am Ende kreuzte Russell als Elfter und Antonelli als Letzter die Ziellinie, und man fragte sich, ob Mercedes mit seiner Taktik grandios verzockt hat. Warum zum Beispiel nahmen die Strategen nicht die frühe VSC-Phase in der zweiten und dritten Runde wahr, um einen der beiden Fahrer auf einen anderen Rhythmus zu setzen als den Rest?

Mercedes wurde mehrfach eingebremst. Der Weg in die Punkte blieb für Russell und Antonelli stets versperrt.
Mercedes verliert das Rennen am Samstag
Toto Wolff gab die Antwort: "Egal, was wir gemacht hätten, wir wären dort angekommen, wo wir angekommen sind. Es gab kein Szenario, das uns in die Punkteränge gebracht hätte. Wir konnten nur auf ein Safety-Car oder eine rote Flagge hoffen, und die kamen nicht. Unter dem Strich haben wir unser Rennen am Samstag mit den Startplätzen 14 und 15 verloren."
Der Chefstratege des Teams hatte auch gleich ein Beispiel parat: "Tsunoda hat in der VSC-Phase am Anfang gestoppt. Und wo ist er gelandet? Auf dem vorletzten Platz. Wir wären in diesem Rennen immer hinter den beiden Williams ins Ziel gekommen." Williams-Teamchef James Vowles hatte sich schon während des Rennens per Textnachricht bei Wolff für die Taktikspielchen entschuldigt.
Dabei konnte man Alexander Albon und Carlos Sainz keinen Vorwurf machen, dass sie mit den Mercedes-Piloten Katz und Maus gespielt haben. Die Werkspiloten konnten sich nicht dagegen wehren, weil Überholen auch mit der neuen Monaco-Regel nicht einfacher wurde. Es gab vier Überholmanöver, darunter nur ein echtes. Lance Stroll gegen Nico Hülkenberg in der allerletzten Runde.

Liam Lawson begann das Blockade-Spiel schon früh im Rennen.
Straßensperren von Toro Rosso und Williams
Toro Rosso und Williams gaben den Spielverderber. Liam Lawson blockierte den Weg frei für Isack Hadjar. Der Franzose wickelte seine beiden Boxenstopps in den Runden 14 und 19 ab, spannte dazwischen den einen Satz Soft-Reifen ein, den er neben je einem der Sorten Hart und Medium noch hatte, und verlor netto nur einen Platz gegen Lewis Hamilton. Lawson schadete die Schützenhilfe nicht, weil kurz danach hinter ihm die Williams-Fahrer das gleiche Spiel trieben. Der Neuseeländer blieb mit seinen Reifenwechseln in der 31. und 40. Runde Achter.
Williams trieb das Teamplay auf die Spitze. Zuerst spielte Carlos Sainz die Straßensperre für Alexander Albon. Als der Thailänder seine zwei Stopps in den Runden 32 und 40 durch hatte, ohne seinen neunten Platz aufgeben zu müssen, machte er den Weg frei für Sainz und blockierte nun seinerseits die beiden Mercedes-Fahrer hinter ihm ein zweites Mal.
Mercedes beschwerte sich nicht, weil man exakt das gleiche plante. Man befand sich nur zu weit hinten im Feld, um irgendeine Wirkung zu erzielen. "Wir mussten aber warten, bis die anderen vor uns das Spiel ausgespielt hatten", erklärten die Strategen. "Wir hatten damit gerechnet, dass es McLaren und Ferrari auch machen, doch die sahen davon ab. Damit war zuerst Toro Rosso an der Reihe, dann Williams, dann wir." Antonelli spielte den Blocker, als Russell Luft für seine Durchfahrtstrafe brauchte.

Charles Leclerc verhinderte immerhin, dass die McLaren vorne Spielchen treiben konnten.
McLaren konnte nicht Teamplay spielen
Der Trick konnte nur bei Teams funktionieren, die ihre beiden Fahrer in unmittelbarer Nähe hatten und gegen den gleichen Gegner fuhren. McLaren hätte Oscar Piastri dazu beauftragen können, Max Verstappen so einzubremsen, bis für Norris das Boxenstoppfenster aufgeht. Doch Piastri wollte selbst gewinnen und wäre für den Plan nicht zu haben gewesen.
Dabei hätte McLaren durchaus Grund gehabt, so zu taktieren. Verstappen hatte für das Rennen nur je einen Satz der harten und der mittleren Mischung in seinem Kontingent. Dazu vier angefahrene Garnituren Soft. Ferrari-Teamchef Frédéric Vasseur ging davon aus, dass Red Bull Verstappen mit Soft losfahren lässt und auf ein frühes Safety-Car hofft.
Es kam ganz anders, Verstappen startete auf den harten Reifen. McLaren-Capo Andrea Stella roch den Braten: "Mit dieser Reifenwahl war klar, was Max vor hatte. Zwei Mal lang fahren, dadurch die Führung übernehmen und auf eine späte rote Flagge hoffen." Red Bull wusste, dass sich McLaren nicht allein auf Verstappen fokussieren konnte. Charles Leclerc lag immer in Sichtweite von Norris.

Max Verstappen hoffte vergeblich auf eine Rote Flagge im letzten Renndrittel.
Verstappens wilde Taktik
Den ersten Undercut des Ferrari-Piloten antizipierte McLaren. Den zweiten wehrte man eine Runde später ab. "Das war unser Dilemma. Wir konnten uns nicht gegen eine späte rote Flagge absichern und Lando draußenlassen. So hätten wir die Position an Leclerc verloren. Max hätte bei einer roten Flagge gewonnen, aber das Risiko mussten wir eingehen", erklärte Stella.
Verstappen fehlten der Speed und die Reifenoptionen um Norris, Leclerc oder Piastri auf der Strecke oder mit Undercuts zu bezwingen. Deshalb wollte er ein bisschen Chaos unter seinen Gegnern provozieren. Wie einst Lewis Hamilton 2016 in Abu Dhabi ließ er Norris aufschließen und trieb ihn dann in die Hände von Leclerc und Piastri, die schnell den Vierer-Zug komplettierten.
Doch weder Leclerc noch Piastri taten dem Red-Bull-Piloten den Gefallen, sich auf einen Angriff auf der Strecke einzulassen. Selbst wenn man das Überhol-Delta von 3,5 Sekunden gehabt hätte, wäre ohne Mithilfe des Gegners ein Platzwechsel nicht möglich gewesen.