Mercedes hat 2025 ein besseres Auto gebaut als in den drei Jahren davor. Und doch hat sich ein Charakterzug der Silberpfeile nicht verändert: Auch der Mercedes W16 zeigt starke Formschwankungen. In Montreal war er das beste Auto im Feld. Zwei Wochen später in Spielberg fehlten George Russell 62 Sekunden zum Sieger. Diese Schwankungen treten auch manchmal an einem einzigen Wochenende auf. Zum Beispiel Silverstone. Vierter am Samstag, Zehnter am Sonntag.
Technikchef James Allison hat eine Idee, warum auch der 2025er-Mercedes eine Wundertüte ist: "Wenn du nicht gewinnst, fühlt es sich nie besonders glänzend an. Wir befinden uns in einem Jo-Jo-Effekt zwischen einem Sieg aus eigener Kraft und schlechten Wochenenden, wie wir sie in Österreich und England hatten. Man muss kein großer Experte sein, um festzustellen, dass das eine Weltmeisterschaft ist, in der es darum geht, wer am besten die Reifentemperaturen kontrolliert. Und das sind sicher nicht wir. Es gibt uns aber ein klares Signal, wohin wir unsere Anstrengungen richten müssen."

Die Performance auf der Strecke hängt stark davon ab, wie das Auto mit den Reifen umgeht.
Der Reifen, das unbekannte Wesen
Das ist ein Problem, das im Feld weit um sich greift. Red Bull hat es, auch Ferrari, Aston Martin oder Alpine. Nur bei McLaren hat man den Eindruck, dass die Ingenieure dem großen Reifenrätsel auf die Spur gekommen sind. Zumindest sind sie in der Lage, die Reifentemperaturen in dem Fenster zu konservieren, in dem sie den besten Grip abliefern.
Allison zweifelt selbst daran: "Wenn Ihnen irgendjemand im Feld erklärt, dass er all diese Interaktionen rund um die Reifen versteht, dann lügt er. In unterschiedlichen Jahren haben unterschiedliche Teams diesen Job besser gemacht, und sie wurden dafür belohnt." In den Jahren 2014 bis 2021 war das Mercedes. 2022 und 2023 Red Bull. Seit 2024 ist es McLaren.
Der Mercedes-Technikchef erklärt, warum es so schwer ist, die Reifen zu verstehen: "Es gibt viele Dinge, über die es kein gesichertes Wissen gibt. Zum Beispiel darüber, wie sich die Hitze über den Reifen verteilt. Auf der Oberfläche, im Mantel, in der Karkasse. Das kann man alles messen. Doch es ist schwer zu verstehen, wie sich das alles verändert, wenn das Auto fährt oder rutscht. Weil sich mit der Temperatur auch die chemischen Eigenschaften des Gummis verändern. Die Regeln halten uns davon ab, die Reifen besser zu verstehen. Wir dürfen kaum testen. Der einzige Weg, das Verhalten der Reifen empirisch besser zu verstehen, sind Grand-Prix-Wochenenden. Doch da gibt es viele andere Dinge zu tun."

Laut James Allison liegt ein Problem in den begrenzten Testmöglichkeiten.
Groundeffect-Autos verstärken Problematik
Auf Prüfständen lässt sich das Verhalten der Reifen laut Allison nicht ansatzweise so simulieren, dass es die Wirklichkeit abbildet. Dieses Missverhältnis sei durchaus gewollt, mutmaßt der erste Mann im Technikbüro von Mercedes. Schwarze Löcher im Verständnis der Materie schaffen Überraschungen. "Der Sport will es so, und es macht diesen Sport sicher auch faszinierend, es so zu handhaben."
Die Reifen waren in der Geschichte der Formel 1 schon immer eine Wissenschaft für sich. Doch seit die Königsklasse mit Groundeffect-Autos fährt, sind die Fragezeichen größer geworden. "Da kommen zwei Dinge zusammen, die es heute schwieriger machen als früher. Das eine ist das eingeschränkte Vorwärmen der Reifen. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch bizarr, ganz auf Heizdecken verzichten zu wollen, nur um ein paar Kilowatt Strom zu sparen. Das wird nie passieren."
Auf dem Weg zu einem Heizdecken-Verbot sah sich Pirelli gezwungen, die Temperatur in den Heizdecken zu reduzieren. Als Folge davon musste der italienische Hersteller Reifen konstruieren, die schon bei tieferen Temperaturen funktionieren. Das macht die Reifen thermisch sensibler. Allison schließt daraus: "Im Zusammenspiel mit Groundeffect-Autos, die die Reifen in Highspeed-Kurven deutlich mehr fordern, wird die thermische Belastung größer als in der Vergangenheit."

Den unberechenbaren Charakter hatten die Silberpfeile schon in der Vergangenheit.
Hat ein Rennauto eine DNA?
Weil so viel von den Reifen abhängt, ist es für die Ingenieure schwierig herauszufiltern, wie gut ihr Auto wirklich ist und wie viel dadurch überlagert ist, dass die Reifen nicht im richtigen Fenster sind. "Es gibt einen Zustand, in dem der Reifen seine beste Arbeit abliefert", führt Allison aus. "Wenn die Strecke passt, die Bedingungen und die Arbeit, die wir in die Abstimmung des Autos gesteckt haben, sind wir einigermaßen schnell. So sind wir erst dann in der Lage zu beurteilen, wie gut unser Auto wirklich ist, wenn wir es schaffen, die Reifen in dieses Fenster zu bringen. Sind wir auf der anderen Seite des Fensters, wird die Sache schwierig."
Da Mercedes dieses Problem nun schon im vierten Jahr umtreibt, liegt die Frage nahe, ob es nicht vielleicht in der DNA des Autos liegt, dass man das Fenster nur selten trifft? Allison reagiert belustigt auf diesen Einwurf: "Ich liebe dieses Wort. Jeder spricht davon, dabei ist es eigentlich falsch. Die DNA ist etwas, das wir von unseren Eltern in die Wiege gelegt bekommen und unveränderbar ist. Diese Analogie passt nicht ganz zu einem Rennauto, weil wir ja jeden Aspekt des Autos ändern können."
Der 57-jährige Engländer schränkt jedoch ein: "Einige Dinge, wie das Layout der Querlenker, den Schwerpunkt, das Rollzentrum, die Federung und die Steifigkeit des Fahrwerks, sind schwieriger innerhalb einer Saison zu ändern, weil es zu teuer wäre und zu lange dauern würde. Andere Dinge, wie die Felgenkühlung oder was du im Inneren der Radträger machst, liegen nicht in der DNA des Autos."

Die Upgrades in dieser Saison haben bisher noch nicht zum großen Befreiungsschlag geführt.
Wozu eine neue Hinterachse?
Die jüngsten Upgrades haben die Charaktereigenschaften des W16 nicht entscheidend verändert. Eine der spektakulärsten Modifikationen war eine neue Hinterachse, die in Imola debütierte, dann aber zwei Rennen lang nicht mehr eingesetzt wurde, bevor sie beim GP Kanada zurückkehrte.
Allison erzählt die Geschichte dazu: "Die neue Aufhängung reagiert anders in ihrem Anti-Lift-Verhalten. Mit dieser Auto-Generation willst du das Heck tief halten, weil der Abtriebsverlust sehr hoch ist, wenn du aus diesem Fenster fällst. Zu nah zur Straße ist genauso schlecht wie zu weit weg. Wenn der Fahrer auf die Bremse steigt, kommt das Auto hinten normalerweise hoch. Das willst du nicht. Ganz anders beim Beschleunigen, wo das Auto von sich aus mit dem Heck eintaucht. Wenn du das Hochgehen des Hecks mit Anti-Lift kontrollieren kannst, hilft es."
Der vorrübergehende Ausbau der Neukonstruktion hatte mit der starken Reifenabnutzung zu tun, die in Imola plötzlich wieder auftrat. "Wir haben diese Aufhängung an einem Wochenende eingeführt, das für uns nicht so gut gelaufen ist. Da gab es Fragezeichen, warum das der Fall war. Um die Situation zu stabilisieren, haben wir die Hinterachse für zwei Rennen ausgebaut, um herauszufinden, was uns in Imola tatsächlich gebremst hat."
Während Red Bull, McLaren und neuerdings auch Ferrari an der Vorderachse auf die Pullrod-Technik umgestiegen sind, blieb Mercedes der Pushrod-Lösung treu. Allison erklärt es mit Prioritäten im Entwicklungsprogramm: "Ich habe wenig Zweifel, dass man mit einer Pullrod-Aufhängung vorne bessere Ergebnisse erzielen könnte. Aber du stellst dir bei der Fahrzeugentwicklung immer die Frage, was für dich das Beste an dem Punkt ist, an dem du stehst. Wenn wir uns dafür entscheiden, Geld und Zeit in eine Pullrod-Aufhängung zu investieren, müssen wir das anderswo wegnehmen. Uns waren andere Themen wichtiger. Wir hätten in der Entscheidungsfindung Pullrod- und Pushrod-Lösungen in einem hohen Entwicklungsgrad miteinander vergleichen müssen, und waren der Meinung, dass der mögliche Gewinn an Rundenzeit den Aufwand nicht lohnt."