Selten tappte die Formel 1 so im Nebel. Der McLaren MCL39 ist ein schnelles Rennauto, doch auf eine schnelle Runde fehlt Red Bull und Mercedes nicht viel. Und dennoch steckt ein Geheimnis in ihm. Es deutet sich auf den Qualifikationsrunden bereits an. Vor allem auf Strecken, die den Reifen belasten. Die McLaren bauen über die Runde nicht ab. Weil die Reifen im Temperaturfenster bleiben.
Im Rennen fahren die Papaya-Renner meistens in einer anderen Liga. Sie können ihre Reifen und damit ihre Rundenzeiten auf einem hohen Niveau konservieren. Wenn bei der Konkurrenz die Reifentemperaturen zu steigen beginnen, verschwinden Oscar Piastri und Lando Norris mit einem Vorsprung von mehr als einer Sekunde pro Runde am Horizont. Egal auf welchem Reifentyp. Auch hier gilt: Je mehr das Streckenlayout, der Asphalt oder die äußeren Bedingungen die Reifen belasten, desto größer der McLaren-Vorteil.
Das ist eine völlig neue Qualität von Überlegenheit. Früher suchte die Konkurrenz nach dem Schlüssel, warum das schnellste Auto so schnell ist. Jetzt muss sie herausfinden, warum dieser McLaren so viel Ausdauer hat. Eines ist nach dem GP Miami allen klar. Mehr Abtrieb und eine stabile Fahrzeugbalance mögen Zutaten zu dem Cocktail sein, doch das wahre Geheimnis liegt woanders.

So sieht die Luftführung im Inneren der Bremse aus. Hier ist aber offenbar kein Geheimnis versteckt.
Alle schauen auf die Bremsbelüftungen
Die Gegner von McLaren wissen mittlerweile auch, wo sie hinschauen müssen. Auf ihren Schreibtischen türmen sich Fotos von den Bremsbelüftungen. Mal geschlossen, mal offen. Doch sie verraten nichts. Interessant wird es erst, wenn die Mechaniker an dem extrem komplexen Kühlsystem arbeiten. Doch ausgerechnet immer dann stellen sich McLaren-Mitarbeiter wie Fußballer bei der Freistoß-Mauer vor dem Auto auf, und man sieht gar nichts.
Die Frage aller Fragen lautet, warum sich die Mechaniker immer dann so verdächtig verhalten. Darin könnte dann auch die Antwort liegen. Man kommt unter Umständen nur auf die Lösung, wenn man sehen könnte, was die Mechaniker verändern, verstellen, austauschen oder prüfen. Das Reglement ist bei den Bremsbelüftungen relativ klar. Die sogenannte Trommel, die das ganze Ensemble umschließt und direkt unter der Felge liegt, ist in ihrer Dimension streng reglementiert. Die Luftführung im Inneren und die verwendeten Materialien sind aber frei.
Ein kleiner Hinweis auf die Lösung des Rätsels könnte jetzt aufgetaucht sein. Er könnte, muss aber nicht der Schlüssel sein. Ein Student forschte vor acht Jahren für seine Doktorarbeit bei McLaren zum Einsatz von Phasenwechselmaterialien. Mittlerweile ist Martin Buchan Aerodynamik-Ingenieur. Sein Wissen hat er jetzt in einem YouTube-Video mitgeteilt und seine eigenen Schlüsse daraus gezogen.

Die Bremsen geben Hitze an die Reifen ab. Die Frage lautet, wie kann man den Effekt reduzieren.
Bremsen heiß und Reifen kühl
Die Bremsbelüftungen haben zwei Aufgaben. Sie sollen die Bremsen kühlen, aber sie heiß genug halten, damit sie optimal verzögern. Und sie sollen die Reifen über die Felgen schnell auf Temperatur bringen, sie dann aber so lange wie möglich in diesem Fenster halten. Die Schwierigkeit liegt darin, die beiden gegenseitigen Anforderungen unter einen Hut zu bringen.
Selbst wenn man es geschickt anstellt, springt die von den Bremsen und vom Auto abgestrahlte Hitze auf die Reifen über. Gerade im Rennen. Red Bull vermutete im letzten Jahr, dass McLaren Wasser in die Reifen füllt, um sie kühl zu halten. Die FIA entkräftete den Verdacht. McLaren wurde mehrmals daraufhin auf Herz und Nieren geprüft. Das Resultat war jedes Mal das gleiche: Dieses Auto ist legal.
Es musste also irgendein genialer Trick sein, der die Bremsen heiß und die Reifen kühl hält. Ein Trick, der ohne Sensoren, Elektrik, Aktuatoren oder den Einsatz von Kühlmittel auskommt. Also ein Prozess, der passiv abläuft und physikalischen und chemischen Gesetzen folgt. Vermutlich unterscheiden sich die Bremsschächte von McLaren mechanisch gar nicht so von den Konkurrenzprodukten.

In bestimmten Momenten bilden die Mechaniker eine Mauer, um neugierige Blicke fernzuhalten.
Der wundersame Wärmespeicher
Im Inneren der trommelförmigen Bremsverkleidungen befindet sich in der Regel eine zweite Hülse, auf der Finnen angebracht sind, die auf die Strömung der Luft Einfluss nehmen. Zwischen den beiden Wänden verläuft ein Kanal, in dem sich entscheidet, welche Temperatur die äußere Hülle auf die Felge abstrahlt. Das ist bei allen Autos so.
Man könnte sich jetzt vorstellen, dass McLaren diesen Kanal zur inneren Verkleidung hin mit einem ganz speziellen Material abschirmt. Ein so genanntes Phasenwechselmaterial, das zum Beispiel auch bei Batterien als Wärmespeicher genutzt wird. Dort gelten die gleichen Anforderungen wie bei den Reifen. Die Temperatur soll schnell ansteigen, aber nicht über ein bestimmtes Ziel hinausschießen.
Im Fall der Reifen würde das so ablaufen: Die abfließende Bremswärme heizt den Reifen auf. McLaren würde nach dieser Theorie diesen Prozess dadurch abbrechen, indem das isolierende Material seinen Aggregatzustand ändert. Zum Beispiel von fest zu flüssig. In diesem Übergang bleibt die Temperatur trotz weiterer Wärmezufuhr von außen gleich.
Die Temperatur in der äußeren Trommel ist der Auslöser des Phasenwechsels. Das verwendete Material richtet sich danach, bei welcher Temperatur das Stoppschild gesetzt werden muss. Die Menge des verwendeten Phasenwechselmaterials legt fest, wie lange die Wärme auf dem gewünschten Niveau stabil gehalten wird. Durch ein geschicktes Luftleitsystem lässt sich die Kühlrichtung umdrehen. Dann werden die Bremsen bis zu einem Punkt gekühlt, in dem sich das Material wieder verfestigt hat.

Liegt das Geheimnis in einer speziellen Isolation unter der äußeren Bremstrommel?
Indizien für Zwei-Phasen-Theorie
Das klingt zugegeben alles ein bisschen wie aus einer anderen Welt, ist aber zumindest plausibel. Dafür sprechen auch einige Indizien. Zum Beispiel Red Bulls Störmanöver mit dem Wasser in den Reifen. Mitarbeiter des Teams insistieren, bei McLaren bei verschiedenen Gelegenheiten Feuchtigkeit auf der Felgeninnenseite gesehen zu haben. Doch wahrscheinlich war die Quelle nicht der Reifen, sondern die Bremstrommel. Vielleicht wurde beim Phasenübergang Flüssigkeit ausgeschwitzt.
Interessant ist auch, dass Red Bull letztes Jahr beim GP Österreich moniert hatte, dass McLaren mit Temperatursensoren auf den Bremstrommeln gefahren sei. Das ist nur im freien Training erlaubt. Laut Red Bull soll es McLaren mindestens ein Mal auch am Rest des Wochenendes gemacht haben. Wenn das stimmt, dann könnte man das so interpretieren, dass die Ingenieure mehr über die Temperaturen im Inneren der Verkleidung während eines Rennens herausfinden wollten.
Auffällig ist auch, dass McLaren im dritten freien Training oft aggressive Longruns fährt und die Konkurrenz dabei um Welten abhängt. Möglicherweise will man unter Extrembedingungen herausfinden, ob alles wie gewünscht funktioniert.
Es ist ganz offensichtlich kein Kinderspiel, diesen Prozess zum Arbeiten zu bringen. Da steckt viel Entwicklungs- und Testarbeit drin. Es sieht so aus, als hätte McLaren einen Vorläufer des Systems bereits nach der Sommerpause 2024 probiert. Ab dem GP Holland haben Lando Norris und Oscar Piastri vor allem in der zweiten Hälfte der Rennen aufgetrumpft. Die Konkurrenz wunderte sich schon da, wie die beiden ihre Reifen so gut in Schuss halten.
Selbst, wenn die Gegner heute schon wissen, was McLaren genau macht, ist es nicht so einfach, den Trick zu kopieren. Red Bull hat möglicherweise schon eine Theorie, die in diese Richtung zielt. Zuletzt klagte Max Verstappen immer öfter über mysteriöse Bremsprobleme. Auf Nachfragen, ob das mit der Reifenkühlung zusammenhängt, gab Teamchef Christian Horner nur einsilbige Antworten.