James Allision: "Einige werden 2022 danebenliegen"

Mercedes-Technikchef James Allison
„Einige werden komplett danebenliegen“

Zuletzt aktualisiert am 25.01.2022

Die Nachrichtenlage ist aktuell dünn. Die Ruhe vor dem Sturm ist fast schon unheimlich. Doch hinter den Kulissen sieht es momentan ganz anders aus. Der Kessel steht gewaltig unter Druck. In den Fabriken gehen die Lichter nicht aus. Für die Ingenieure ist es die stressigste Phase des Jahres. Der Countdown tickt unaufhaltsam runter. Spätestens mit dem Start der Testfahrten in Barcelona am 23. Februar müssen die neuen Rennwagen fertig sein.

Dieses Jahr ist es sogar besonders stressig. Bei den neuen Autos handelt es sich nicht nur um die übliche Weiterentwicklung der Vorjahresmodelle. Für die Königsklasse beginnt 2022 eine ganz neue Zeitrechnung. Was in den Entwicklungsabteilungen in den letzten Jahren an Erkenntnissen gesammelt wurde, wanderte fast komplett in die Tonne. Vor allem in Sachen Aerodynamik mussten alle bei null anfangen.

"Man vergisst schnell, wie umfangreich diese Regeländerung ist", berichtet Mercedes-Technikchef James Allison. "Ich arbeite schon mehr als 30 Jahre in diesem Geschäft, aber gegen diese Reform wirkt alles, was ich bisher gesehen habe, winzig. Das Regelwerk ist doppelt so groß und ganz anders geschrieben. Wir mussten das Auto von vorne bis hinten ganz neu entwickeln – nicht nur mit neuen Teilen, sondern mit einem ganz neuen Konzept."

Mercedes - F1-Auto 2022 - Team-Lackierung
Mercedes

Alle Chancen nutzen

Das erwähnte neue Konzept sieht vor, dass der Großteil des Anpressdrucks nicht mehr über Front- und Heckflügel generiert wird, sondern über tiefe Kanäle im Unterboden. Das Auto wird quasi auf den Asphalt gesaugt und nicht mehr gedrückt. Leitbleche zwischen den Achsen sind fast komplett verboten. Dazu müssen die Ingenieure auf viele Einheitsteile zurückgreifen, wie zum Beispiel die neuen 18-Zoll-Räder.

Für die Techniker begann die Aufgabe schon mit der Veröffentlichung des Gesetzestextes im Oktober 2019. Eigentlich sollten die neuen Autos schon in der vergangenen Saison zum Einsatz kommen. Die Corona-Pandemie sorgte dann aber dafür, dass der große Schritt um ein Jahr verschoben wurde.

Den Ingenieuren kam die Verzögerung nicht ungelegen, wie Allison verrät: "Es war eine große Herausforderung, überhaupt erstmal zu verstehen, wie man dieses Reglement angehen muss und wie man die versteckten Chancen erkennt, um am Ende ein Auto zu bauen, mit dem wir wieder vorne mitfahren können. Unsere Aufgabe besteht ja darin, alle Möglichkeiten auszunutzen, um dann ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das besser ist als alle anderen."

James Allison - Mercedes - 2020
Wilhelm

Mercedes trotz Neustart wieder vorne?

Die Verantwortlichen der Formel 1 und der FIA versuchten, den Teams jedoch möglichst viele Knüppel zwischen die Beine zu werfen, damit das Feld dicht zusammenbleibt. Außerdem wurde als Ziel ausgegeben, die Turbulenzen am Heck des Autos zu minimieren, um das Hinterherfahren zu erleichtern. Als Konsequenz daraus wurde das Reglement sehr restriktiv geschrieben.

Allison zeigt Verständnis, dass die Freiheiten beschränkt sind und alle Schlupflöcher so gut wie möglich gestopft wurden: "Wir sind selbst Fans dieses Sports und wollen natürlich auch, dass die Ziele der Regeländerung erreicht werden und es mehr Zweikämpfe auf der Strecke gibt. Als Team wollen wir aber ein Auto bauen, das bestenfalls ganz vorne fährt. Und wenn es hinter uns viele Duelle gibt, umso besser."

Bei Mercedes ist die Freude über die neue Herausforderung besonders groß: "Wir können nun zeigen, dass wir in den letzten Jahren nicht einfach nur Glück hatten. Wir wollen uns wieder mit den anderen Teams messen, um zu erfahren, ob wir den Platz am vorderen Ende des Feldes immer noch verdient haben. Wenn man am Ende für die harte Arbeit belohnt wird, dann ist das einfach ein tolles Gefühl."

Mercedes F1-Hauptsitz Brackley
Mercedes

Neues Reglement wie ein Mienenfeld

Allison warnt aber auch vor den Gefahren des Neustarts. Es gibt keine Garantie, das die Silberpfeile am Ende wieder den Konstrukteurspokal nach Hause bringen: "In dem neuen Reglement sind Chancen und Risiken versteckt. Man muss den richtigen Weg durch ein Mienenfeld finden und dabei möglichst alle Schätze ausbuddeln."

Noch kann niemand sagen, wer die Aufgabe am Ende am besten meistert. Alle zehn Teams gehen mit großen Hoffnungen an den Start. "Dieses Nicht-Wissen macht das Ganze so aufregend. So neu und unterschiedlich, wie diese neuen Autos sind, könnte ich mir gut vorstellen, dass ein oder zwei Teams komplett danebenliegen und ein schmerzhaftes Jahr durchleben", prognostiziert Allison.

Der 53-jährige Ingenieur hat schon einige Regelreformen durchgemacht und weiß, was in ein paar Wochen auf die Teams zukommt: "Wir alle werden herausfinden, dass wir irgendwo etwas verschenkt haben. Wir werden auf die anderen Autos schauen und uns fragen: Warum sind wir nicht selbst darauf gekommen? Und dann müssen wir diese Ideen so schnell wie möglich an unsere eigenen Autos bringen, damit wir entweder in der Rangfolge nach oben klettern oder die angreifenden Wölfe im Rückspiegel auf Distanz halten. Viel Schlaf werden wir dabei wohl nicht finden."