Es ist das größte Rätsel der Saison. Bis zur Sommerpause war der Ferrari F1-75 ein Auto, das überall gewinnen konnte. Seitdem hat er nur seinen Speed konserviert, nicht aber seine Ausdauer. Charles Leclerc sammelt weiter Pole Position um Pole Position, doch der WM-Zweite kann im Rennen die Position nicht mehr halten. Fast immer lassen die Reifen nach. Sie werden zu heiß. Je nachdem, wie das Auto ausbalanciert ist, trifft es mal die Vorderreifen, mal die Hinterreifen. In Singapur vorne.
Immerhin hat es bei dem Stadtrennen länger als bei den letzten Grands Prix gedauert, bis Red Bull seinen Vorteil ausspielen konnte. Auf den Intermediates kletterte der Vorsprung von Sergio Perez zum ersten Mal in der 19. Runde über die Zweisekunden-Marke. Das Delta stieg maximal bis auf 4,3 Sekunden an, wobei zwei VSC-Phasen den Reifen immer etwas Erholung gönnten.
Auf Slicks verlor Perez seinen Beschatter in Runde 52 langsam aus den Augen. Nach 17 Runden Laufzeit für die Medium-Sohlen. Am Ende hatte der Sieger 7,5 Sekunden Vorsprung, und das nicht, weil sein Verfolger aufgegeben hätte. Leclerc unternahm wegen der drohenden Strafe für Perez alles, um nicht weiter als fünf Sekunden zurückzufallen.

Red Bull nach sieben Runden schneller
Leclerc machte zum Teil das ständige Hinterherfahren in den Turbulenzen des Spitzenreiters für die Reifenprobleme verantwortlich. "Wenn ich zu lange dicht dran war, haben die Vorderreifen überhitzt, und ich musste wieder etwas nachlassen." Der dreifache Saisonsieger stellte aber auch fest: "Im direkten Vergleich sind wir in den ersten sechs bis sieben Runden schneller und Red Bull danach. Dafür müssen wir eine Erklärung finden."
Teamchef Mattia Binotto versuchte, das Positive zu sehen. "Wir waren schnell auf Intermediates und auf Slicks. Singapur hat gezeigt, dass wir unsere Schwächen von Spa und Zandvoort abgestellt haben. Deshalb sind wir auch enttäuscht, dass es nicht zum Sieg gereicht hat." Auf eine Runde trifft das sicher zu. Im Kampf um die Pole Position ist Leclerc das Maß aller Dinge.
Auch wenn Red Bull anführte, dass Max Verstappen bei einem problemlosen Qualifying eine halbe Sekunde schneller hätte fahren können. Leclerc hatte bei seiner Bestzeit auch noch Reserven. Seine Idealzeit lag drei Zehntel unter seiner schnellsten Runde.
Welche Rolle spielt Unterboden-Regel?
Trotzdem ist der Red Bull ein runderes Paket. Sportchef Helmut Marko führt das darauf zurück, dass man im Verlauf der Saison über zehn Kilogramm abgespeckt und sein Auto immer besser verstanden hat. "Dadurch ist das Arbeitsfenster größer und das Auto fahrbarer geworden. Das Gewicht ist jetzt besser verteilt. Wir tun uns leichter, das Auto abzustimmen." Das sieht auch Binotto ein: "Red Bull findet schneller eine gute Balance."
Mercedes glaubt, dass die seit Spa geltenden strengeren Regeln für den Unterboden etwas mit dem einseitiger gewordenen Kräfteverhältnis zu tun haben. "Das hat Ferrari härter getroffen als Red Bull." Dieser Theorie nach muss Ferrari deshalb höher fahren und sein Fahrwerk anders abstimmen als vorher, was je nach Rennstrecke mal mehr, mal weniger schmerzt. Immer davon abhängig wie weit der Schutz des Bodens Ferrari aus seinem optimalen Arbeitsfenster treibt. Ferrari sieht keinen Zusammenhang zu der FIA-Direktive. Es könnte ja der Eindruck entstehen, man hätte vorher in Grauzonen gefischt.

Linke Spur war nasser
In Singapur hätte es für Ferrari vielleicht zum Sieg reichen können, wenn Leclerc nicht den Start vergeigt und der Undercut beim Wechsel auf Slicks funktioniert hätte. "Der Start hat den Rest des Rennens entschieden. Wenn wir in Führung gehen, sind wir den Rest des Rennens in einer besseren Position und nicht in der Defensive", glaubt Binotto. Leclerc hat offensichtlich nichts falsch gemacht. Die Reaktionszeit war gut, alle Prozeduren wurden befolgt. "Die linke Seite der Zielgerade war rutschiger als die rechte", entschuldigte Binotto seinen Fahrer.
Der Undercut beim Wechsel auf Slicks funktionierte trotz eines Deltas von nur 2,6 Sekunden zugunsten von Perez nicht. Leclerc stand beim Boxenstopp 5,3 Sekunden, Perez 2,5 Sekunden weniger. Das geht auf das Konto des Fahrers. Leclerc überschoss seine Parkposition. Und der Vorteil der früheren Runde war keiner, weil man in der ersten Runde auf Slicks im Vergleich zu den Kollegen auf gebrauchten Intermediates zu viel Zeit verlor.
Ein Test für 2023
Weder der Fahrer noch das Team ging auf das Missgeschick in der Boxengasse groß ein. Bloß nicht wieder alte Wunden aufreißen, Ferrari mache operativ zu viele Fehler. Binotto fühlt sich da einseitig behandelt und verweist auf Red Bulls Spritpanne in der Qualifikation: "Wenn uns das passiert, werden wir gekreuzigt. Bei Red Bull ist es ein Fehler, der passieren darf."
Die Fahrer verraten immerhin, dass Ferrari schon Kurs auf 2023 genommen hat. "Wir wollen die letzten sechs Rennen dazu nutzen, uns in der Exekutive der Rennen zu verbessern. Das Rennen in Singapur fühlte sich da wie ein Fortschritt an", erzählte Leclerc.
Ferraris starker Saisonstart hat allenthalben zu große Erwartungen geweckt. Man müsse auch einmal sehen, wo das Team herkomme und wo man im Vergleich dazu vor einem Jahr stand, sagen Management und Fahrer. Wenn jetzt noch rauskommt, dass Red Bull das Budget 2021 überzogen haben soll, dann wäre das für Ferrari gegenüber der Firmenleitung in Turin politischer Rückenwind. Egal wie hoch der Mehreinsatz, man hätte eine gute Erklärung, warum der Gegner immer noch einen kleinen Schritt voraus ist.