Der Grand Prix von England 2022 wird in Erinnerung bleiben. Wegen des spektakulären Unfalls von Guanyu Zhou, den der Alfa-Fahrer ohne Verletzung überstand. Und wegen der Show nach dem Safety Car. In den letzten Runden überholte Carlos Sainz seinen Ferrari-Teamkollegen Charles Leclerc dank der frischeren Reifen und schnappte sich den ersten Karriere-Sieg.
Leclerc lieferte sich außerdem eine Verteidigungsschlacht gegen Sergio Perez und Lewis Hamilton, die er verlor. Und er verteidigte sich erfolgreich gegen Fernando Alonso und Lando Norris hinter sich. Um den siebten Platz stritten sich Max Verstappen und Mick Schumacher. Mit dem besseren Ausgang für den Weltmeister, der die Ellbogen mehr als nur ausfuhr.

Lob für Pirelli-Reifen
Auch vier Tage nach dem Rennen begeistert sich die Formel 1 an ihrer eigenen Show. Silverstone lieferte einen weiteren Beweis, dass die Ground-Effect-Autos wirken. Die Fahrer können sich einfacher folgen, weil ihre Autos in den Kurven nicht so viel Abtrieb verlieren wie früher. Sie können in Kurven verschiedene Linien fahren. Überholen ist allerdings kein Kinderspiel geworden. Gut so. Die Fahrer müssen dafür arbeiten, an ihren Rivalen vorbeizuziehen. Es ist nicht so, dass sie einfach das DRS öffnen und vorbeifliegen.
Zwei-, Drei oder Vierkämpfe ziehen sich über mehrere Runden, weil die Reifen mitspielen. Da muss man Pirelli loben. Die Italiener haben ein Produkt hingestellt, das im Gegensatz zu früher bei Rutschern oder beim Hinterherfahren nicht überhitzt. Nur an einer Sache stören sich die Fahrer: Ihnen sind die Regeln immer noch nicht klar genug. Beziehungsweise werden die Regeln aus ihrer Sicht unterschiedlich ausgelegt.
Fernando Alonso beispielsweise protestiert, dass er in Miami dafür bestraft wurde, in der Schikane abzukürzen, und sich dadurch nach Meinung der Sportkommissare einen unlauteren Vorteil verschaffte. Sergio Perez dagegen kam ohne Buße davon, nachdem er in Silverstone zwischen den Kurven 16 und 17 abseits der Bahn unterwegs war, und dabei Charles Leclerc überholte.
"Am Anfang der Saison wurde uns klar gesagt, dass wir die Strecke nicht verlassen dürfen", erinnert Alonso. "Die Regel war schwarz und weiß. Fährst du neben die weiße Linie für die Streckenbegrenzung, und verschaffst dir dadurch einen Vorteil, wirst du bestraft. Das war in Silverstone nicht der Fall."
Fragen zum Spurwechsel
Der spanische Doppelweltmeister zeigte sich auch überrascht, dass er in Kanada eine Strafe dafür erhielt, im Zweikampf mit Valtteri Bottas in der letzten Runde mehrmals die Spur gewechselt zu haben. Im Englischen spricht man von "Weaving". Alonso selbst zählte im Gegensatz zu den Sportkommissaren keine vier Spurwechsel, sondern nur einen. Vor der Zielschikane lenkte er seinen Alpine dann noch zurück auf die Rennlinie. In Silverstone, so Alonso, habe Leclerc vor ihm mehrere Spurwechsel vollzogen, kam aber ohne Strafe davon. In den TV-Interviews juxte er: "Wenn ich für einen Spurwechsel fünf Sekunden bekomme, sollte Charles für drei deren 15 Sekunden bekommen."
Über die Vorfälle wird in der Fahrerbesprechung in Österreich zu reden sein. McLaren-Pilot Lando Norris stellt sich auf Alonsos Seite: "Aus meiner Sicht hatte Fernando in Kanada keine Strafe verdient." Rekordsieger Lewis Hamilton pflichtet bei. "Wir Fahrer wollen in solchen Fällen wissen, was wir tun dürfen und was nicht. Zum Beispiel beim Weaving. In den Regeln steht klar, dass man nur einmal die Spur wechseln darf." Wenn wir uns an das Saisonfinale des Vorjahres erinnern: Da zuckelte Max Verstappen nach Überholmanöver gegen Hamilton auf der Gegengerade hin und her – und es wurde nicht einmal eine Untersuchung eingeleitet.

Hamilton an Kartsport erinnert
Hamilton bezeichnet die letzten Runden von Silverstone als "großartiges Racing". So wie es sein sollte, obwohl Perez den Ferrari neben der Rennstrecke überholte, worauf der siebenfache Champion explizit hinwies, bevor er schwärmte. "Ich habe mir die Clips angeschaut. Das hat mich an meine Kartzeiten erinnert. Wir konnten attackieren und uns gegenseitig überholen. Und sind nicht wie in der Vergangenheit stumpf hintereinander her gefahren. Das war selbst für die Beteiligten damals langweilig."
Ein weiteres Duell spielte sich hinter dem Sechserpack ab. Verstappen wehrte zwei Angriffe von Mick Schumacher ab. Der Deutsche holte im 31. Rennen der Karriere endlich die ersten WM-Punkte. Auf Nummer sicher ging er allerdings nicht. Schumacher wollte den Weltmeister, der in einem angeschlagenen Auto saß, bezwingen. "Das wären immerhin zwei WM-Punkte mehr für das Team und mich gewesen."
Den ersten Angriff wehrte Verstappen in Brooklands ab. Der Haas tauchte auf seiner rechten Seite auf der Außenspur auf. Schumacher schaffte es auf der Bremse, neben den Red Bull zu ziehen, fiel aber im Scheitelpunkt der Kurve um etwa eine halbe Wagenlänge zurück. Am Ausgang drückte ihn Verstappen neben die Randsteine. Der WM-Führende ließ Schumacher keinen Zentimeter Platz.
Verstappen vs. Schumacher
Nach den Richtlinien der Rennleitung war es kein Vergehen. Grundsätzlich gilt: Beide Fahrer müssen sich genug Platz lassen, um innerhalb der Streckenlimits zu bleiben. Aber: Bei einer Attacke auf der Außenseite muss der angreifende Fahrer am Scheitelpunkt vorne sein. Das war Schumacher nicht.
Im zweiten Fall versuchte der Deutsche, sich in der Zielkurve innen durchzudrücken. Dabei hatte Schumacher seine Vorderräder bereits vor Verstappens Hinterachse. Red Bulls Superstar ließ ihm dennoch keinen Platz. "Ich hatte mich darauf eingestellt, dass er mir die Tür zuwirft." Eigentlich besagen die Richtlinien: "Wer innen überholt, muss am Scheitelpunkt die Vorderräder neben dem gegnerischen Auto haben." Schumacher war für einen Moment praktisch auf halber Höhe zum Red Bull.
Auch wenn der Sohn von Rekordweltmeister Michael Schumacher nicht klagte. Er würde sich doch wie seine Kollegen mehr Klarheit in der Auslegung wünschen. Ob das jemals klappt? Nicht jeder Fall ist gleich, wie Routinier Alonso weiß. "Verschiedene Szenarien, verschiedene Manöver, verschiedene Kurven. Da ist es immer schwer, gleiche Urteile zu fällen." McLaren-Pilot Norris ergänzt. "Wir können nur darüber sprechen, und der Rennleitung so viele Informationen und Anregungen wie möglich an die Hand geben, damit die Regelauslegung konstanter wird."
Wichtig: Die zu Saisonbeginn aufgestellten Regeln sind nicht bindend, sondern sollen den Sportkommissaren zur Entscheidungsfindung dienen. Die Stewards wechseln bei jedem Rennen. Da wird es immer unterschiedliche Meinungen und Auslegungen geben.