Es gibt Rennautos, die hatten das Zeug zum Weltmeister, sind aber auf dem Weg dorthin falsch abgebogen oder in eine Sackgasse geraten. Der Ferrari F1-75 ist so ein Auto. Bis zum siebten Rennen sah er wie der wahrscheinliche Champion aus, bis zur Saisonmitte wie ein möglicher. Nach der Sommerpause ging dann gar nichts mehr. Da musste Ferrari sogar noch um den zweiten Platz fürchten. Red Bull fuhr auf und davon, Mercedes holte auf.
Am Ende fragten sich alle, wie das beste Auto der ersten Saisonhälfte so einbrechen konnte. Warum der F1-75 alle seine guten Eigenschaften abstreifte, und der Red Bull RB18 eben diese übernahm. In Imola lobte Red-Bull-Stardesigner Adrian Newey das Konkurrenzprodukt noch für sein großes Arbeitsfenster, seine Vielseitigkeit, die Leichtigkeit ihn abzustimmen, den Grip auf der Vorderachse, die geringe Reifenabnutzung, den stärksten Motor, die Standfestigkeit und das niedrigere Gewicht.
Verkettung unglücklicher Umstände
Ein halbes Jahr später hätte Newey das gleiche über sein Auto sagen können. Und der Ferrari schien all seine guten Eigenschaften verloren zu haben. Er war nur noch auf eine Runde ein wehrhafter Gegner. Im Rennen fraß er seine Reifen und war verwundbar auf den Geraden. Ferrari hatte schnell gemerkt, dass der WM-Zug abgefahren war und sich früh auf das 2023er Auto konzentriert. Man wollte die gleichen Fehler nicht zwei Mal machen. Wenigstens das.
Warum Ferrari scheiterte, ist im Rückblick schnell erklärt. Man könnte wohlwollend von einer Verkettung unglücklicher Umstände sprechen. An einigen dieser Umstände war der Vize-Meister allerdings nicht ganz unschuldig. Wie sich erst später herausstellte, ging Ferrari mit einem Gewichtsvorteil von zehn Kilogramm in die Saison. Das waren exakt die drei Zehntel, die das rote Auto anfangs schneller war.

Top-Speed-Manko zwingt Ferrari in die Sackgasse
Technisch herrschte also eigentlich schon früh Gleichstand. Jetzt kam es darauf an, wer besser weiterentwickelt. Bei Red Bull war das Ziel klar. Man musste einfach nur das schaffen, was der Ferrari schon konnte und gleichzeitig kräftig abspecken. Nach der Sommerpause lag man vom Gewicht auf gleichem Niveau. Ferrari dagegen spürte immer mehr Gegenwind, je kleiner das Gewichtsdelta wurde. Nun war man selbst gezwungen, Rundenzeit zu finden.
In Imola und Miami merkten die Italiener, dass Red Bull mit seinem Top-Speed-Vorteil im Rennen auf Strecken mit einem hohen Anteil von Geraden Vorteile hatte. Ferrari generierte seinen Abtrieb zu einem größeren Prozentsatz als die Konkurrenz auf dem klassischen Weg. Über die Flügel und die Verkleidung. Deshalb war das Auto gutmütig und berechenbar und nicht so abhängig von der Bodenfreiheit. Deshalb hatten die Techniker mehr Freiheit bei der Abstimmung. Deshalb war das durchaus vorhandene Bouncing für die Fahrer beherrschbar.
Ein neuer Unterboden mit Schwächen
Der starke Top-Speed des Gegners zwang Ferrari dazu, den Anpressdruck effizienter zu generieren. Gleichzeitig zwang ein Ventilproblem Ferrari dazu, die Laufzeiten des Motors zu verkürzen und Leistung zurückzunehmen. Das machte die Aufgabe, mehr Abtrieb über den Boden zu holen und weniger über die Flügel, umso dringlicher. Beim GP Frankreich debütierte ein Unterboden, den der ehemalige Rennleiter Mattia Binotto später als die Ursache dafür ausmachte, dass der F1-75 plötzlich seine guten Eigenschaften verlor. Der Boden spendete jetzt zwar mehr Abtrieb, aber der war unter bestimmten Bedingungen instabil.
Gleichzeitig verschärfte die FIA ihre Maßnahmen gegen das Bouncing und kündigte strengere Kontrollen der Planken und Böden an. Alle waren gezwungen, höher zu fahren als gewünscht. Red Bull kam damit klar, Ferrari nicht mehr.
Weil der F1-75 mit dem Frankreich-Unterboden sein Arbeitsfenster verkleinert hatte. Und weil es ein Zurück zum alten Boden nicht mehr gab. Dann hätte man wieder mit größeren Flügeln fahren müssen, womit die Top-Speed-Schere weiter aufgegangen wäre. Das war die Sackgasse. Die Lösung für die Motorprobleme kam zu spät. Charles Leclerc hatte sie ab Austin an Bord, Carlos Sainz ab Interlagos.

Schnell, aber zerbrechlich
Der Ferrari F1-75 steht mit seiner Story nicht allein da. Es gab in der Formel-1-Historie noch viele andere Autos, die das Zeug zum Weltmeister hatten, es aber nicht auf die Straße brachten. Dabei sind die Gründe des Scheiterns unterschiedlich.
Der Lancia D50 aus den 50er Jahren war von seinen Genen her eigentlich das bessere Rennauto als der Mercedes W196. Aber er war zu extrem, zu kritisch im Fahrverhalten, zu defektanfällig. Gianni Lancia hätte viel Geld in die Hand nehmen müssen, um alle Kinderkrankheiten abzustellen. Doch genau das ging ihm im Frühsommer 1955 aus. Er sperrte mitten in der Saison seine Rennabteilung zu.
Lotus hatte 1962 mit dem Modell 25 und 1967 mit dem Typen 49 das jeweils schnellste Auto im Feld. Der 25er war das erste Formel-1-Auto in Monocoque-Bauweise, der 49er das erste mit dem Motor als mittragendes Element. Beide Lotus scheiterten an mangelnder Zuverlässigkeit. B.R.M. profitierte 1962 davon, dass Graham Hill nur ein Mal ausfiel, Jim Clark im Lotus 25 aber vier Mal. Hill legte 3.254 Rennkilometer zurück, Clark nur 2.516. Im zweiten Anlauf 1963 fuhr Clark im Lotus 25 alles in Grund und Boden.
Fünf Jahre später wiederholte sich die Geschichte. Weltmeister Denis Hulme fiel zwei Mal aus, Jim Clark fünf Mal. Der brave Brabham-Repco war nicht das schnellste Auto im Feld, aber stabil wie ein Panzer. Der Lotus 49, die in Aluminium gegossene Eleganz, pfeilschnell, aber zerbrechlich. Hulmes 3.526 Rennkilometern stand 2.539 von Clark gegenüber. Auch der Lotus 49 brauchte zwei Jahre, bis er zum Weltmeisterauto gereift war. 1968 holte Graham Hill den WM-Titel, der eigentlich für Clark reserviert schien.

Eine gute Idee nicht zu Ende gedacht
Lotus stand sich noch ein weiteres Mal selbst im Weg. Das Modell 78 aus der Saison 1977 war der Vorläufer der Groundeffect-Autos. Auf Strecken, die viel Abtrieb verlangten, haushoch überlegen. Auf den schnellen Strecken manchmal hoffnungslos, weil das Auto auf den Geraden zu langsam war.
Teamchef Colin Chapman setzte auf Breite, weil er die umgekehrten Flügelprofile noch nicht über die gesamte Länge der Seitenkästen durchziehen konnte. Außerdem flog Mario Andretti sechs Mal der Cosworth-Experimentalmotor um die Ohren. So konnte er trotz vier Siegen nicht Weltmeister werden.
Ligier brachte 1979 mit dem JS11 eine der besseren Lotus-Kopien an den Start. Jacques Laffite und Patrick Depailler legten los wie die Feuerwehr: Drei Siege in fünf Rennen. Ligier experimentierte auf Gewichtsgründen mit Flügelflächen aus Plastik unter den Seitenkästen.
Konstrukteur Gérard Ducarouge bemerkte zu spät, dass sich die Plastikelemente bei vollem Anpressdruck verzogen und nicht mehr die Abtriebswerte von vorher lieferten. "Als wir reagiert haben, war der WM-Zug bereits abgefahren", ärgerte sich Laffite hinterher. Ferrari holte den Titel, obwohl man nicht mal ein richtiges Groundeffect-Auto hatte. Zuverlässigkeit war die Trumpfkarte.

Unfälle entscheiden die WM
1982 lief es genau anders herum. Ferrari hatte mit dem 126C2 das beste Auto im Feld. Doch eine unheimliche Unfallserie brachte die Scuderia um den WM-Titel. Gilles Villeneuve kam in Zolder bei einem Trainingsunfall ums Leben. Didier Pironi führte vor dem GP Deutschland mit neun Punkten vor John Watson und 16 Zählern vor dem späteren Weltmeister Keke Rosberg.
Ein schwerer Unfall im völlig unbedeutenden Regentraining am Samstagmorgen beendete Pironis Karriere. In der Endabrechnung fehlten ihm fünf Punkte, obwohl er sechs der 16 Rennen gar nicht gefahren war.
Auch 1990 durfte sich Ferrari über eine verpasste Chance ärgern. Das Duell der ehemaligen Teamkollegen Ayrton Senna und Alain Prost lebte in unterschiedlichen Teams weiter. Senna bei McLaren, Prost bei Ferrari. McLaren lebte von der Honda-Power, Ferrari vom besseren Chassis. Doch der Leistungsvorteil schrumpfte im Verlauf des Jahres. Im letzten Saisondrittel wurden der Honda V10 auf 710 PS und der Ferrari V12 auf 690 PS taxiert.
Prost lag mit fünf Saisonsiegen zwei Rennen vor Schluss mit neun Punkten Rückstand immer noch in Reichweite des Titels. Er musste in Suzuka nur vor Senna ins Ziel kommen, um das WM-Duell offen zu halten. Beide starteten aus der ersten Reihe, Prost auf der besseren Außenspur. Senna wusste, dass er Prost nicht halten konnte, wenn der erst einmal den Start gewann. Der Ferrari ging im Rennen viel pfleglicher mit den Reifen um als der McLaren. Als Prost besser aus den Startlöchern kam, fuhr ihm Senna in der ersten Kurve einfach ins Auto. Damit blieb dem Ferrari 641 der WM-Titel verwehrt.

Wenn Zuverlässigkeit zum Joker wird
Der Ferrari 641 war in seinen Grundfesten eigentlich eine Konstruktion von John Barnard. Sein herausragendes Technik-Feature war das halbautomatische Getriebe. Williams übernahm die Idee, löste sie technisch aber einfacher und genialer. Doch in der ersten Saison zeigte die Kraftübertragung, die wie ein Motorradgetriebe über Schaltwalzen gesteuert wurde, noch Schwächen. Der Williams FW14 stellte den McLaren MP4-6 vom Speed her in den Schatten, scheiterte aber an seinen technischen Gebrechen.
Die Saison 2005 lebte nach fünf Jahren Ferrari-Dominanz von neuen Akteuren. Fernando Alonso gegen Kimi Räikkönen. Renault gegen McLaren. Der McLaren MP4-20 war schneller, aber fragiler. Alonso und Räikkönen gewannen je sieben Grands Prix. Der Renault-Pilot schrieb eine Nullrunde, sein Gegner von McLaren drei. Zuverlässigkeit ließ Speed keine Chance. Als Renault drei Rennen vor Schluss den Massedämpfer einführte, hatte McLaren nichts mehr entgegenzusetzen.
Geniale Idee schlägt das bessere Auto
2009 stellte ein Technik-Reglement alle Uhren auf Null. Der Red Bull RB5 hatte das größte Potenzial, was er auch mit sechs Siegen und fünf Pole Positions unterstrich. Trotzdem wurde Jenson Button auf Brawn GP Weltmeister. Der Nachfolge-Rennstall von Honda lebte von einer genialen Idee. Der Doppeldiffusor wurde für Brawn GP zum Matchwinner. Red Bull brauchte acht Rennen zum Nachrüsten. Da war es längst zu spät.

Ferrari kehrte 2017 mit der Einführung der zwei Meter breiten Autos auf die Siegerstraße zurück. Den Technikern in Maranello gelang mit den SF70H ein ebenso ungewöhnliches wie schnelles Auto. Einfach zu fahren, einfach abzustimmen, einfach zu verstehen.
Ein rechteckiger Kasten vor den Kühleinlässen verkürzte die Seitenkästen und verbesserte die Strömung. Der Heckflügel bog sich auf der Geraden um zwei Ankerpunkte nach hinten, der Boden an den Seiten zur Straße hin. Ferrari war frecher und radikaler geworden. Man traute sich plötzlich in Graubereiche vor, die vorher tabu waren. Dazu kam: Ferrari hatte die breiten Reifen intensiver getestet als alle anderen und verstand sie auch besser.
Bis zum GP Japan durften Sebastian Vettel und Ferrari noch hoffen. Dann besiegelte der zweite Ausfall innerhalb von drei Rennen Vettels Schicksal. Hamilton holte auf den drei Asien-Rennen in Singapur, Malaysia und Japan 68 Punkte. Vettel nur zwölf. Das war der Todesstoß.
Die Niederlage war für Ferrari umso bitterer, als sie auf Rennstrecken zustande kam, auf denen der SF70H dem Mercedes überlegen war. Über die Saison gesehen hatte Mercedes den höheren Speed, Ferrari das konstantere Paket. Aber Vettel schrieb zwei Nuller. Lewis Hamilton kam immer in Ziel. So gewinnt und verliert man Titel.