Carlos Sainz hat den GP England mit einem Vorsprung von 3,7 Sekunden gewonnen. Und doch war der Spanier nur der fünftschnellste Mann im Feld. Max Verstappen hatte den späteren Sieger gerade von der Spitze verdrängt, als er sich ein Wrackteil eines Alpha Tauri einfuhr. Der Schaden am Unterboden kostete 60 Punkte Abtrieb. Damit war der Holländer aus dem Rennen. Auch Charles Leclerc fuhr mit einem Handikap. Der Verlust der rechten Frontflügelendplatte im Nahkampf der ersten Runde bedeutete fünf Punkte Anpressdruck weniger.
Auch Lewis Hamilton hatte im Rennen mehr Speed als der siegreiche Spanier. Je älter die Reifen, umso größer sein Vorteil. Seine schnellste Rennrunde war drei Zehntel schneller als die des Ferrari-Piloten. Im direkten Duell hätte wahrscheinlich auch Sergio Perez gegen Sainz gewonnen. Der Mexikaner hatte nach seinem frühen Boxenstopp zum Frontflügelwechsel 36,9 Sekunden Rückstand auf den Ferrari mit der Startnummer 55. 33 Runden später, kurz vor der Safety-Car-Phase, war der Abstand auf 24,6 Sekunden geschrumpft.

Doppelstopp ohne Zeitverlust war möglich
Sainz feierte seinen ersten GP-Sieg, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Platz war. Er verdaute eine Stallregie in Runde 31, als er nicht in der Lage war, die Zielzeit von 1.32,2 Minuten zu fahren, die nötig war, um nicht in einen Overcut von Hamilton zu laufen. Kaum hatte Sainz dem schnelleren Leclerc Platz gemacht, konnte er seinem Teamkollegen folgen.
Als Esteban Ocon in der 39. Runde eine Safety-Car-Phase auslöste, da hatte Sainz das Glück im Sandwich von Leclerc und Hamilton zu liegen. Ferrari wollte die Führung nicht aufgeben und mit Sainz durch Warten auf den Reifenwechsel nicht eine Position an Hamilton abgeben. Aber es wäre höchstens dieser eine Platz gewesen, den der Silverstone-Sieger verloren hätte. Und wenn man den Doppelstopp bei 4,2 Sekunden Delta zwischen den beiden Ferrari-Piloten schlau gespielt hätte, hätte Sainz vielleicht gar nicht warten müssen, Leclerc war zu Recht sauer. Ihm wurde der Sieg gestohlen.
Sainz hatte dazu noch das Glück, dass beim Re-Start hinter ihm ein wilder Fünfkampf um den zweiten Platz begann, der ihm die Luft gab, einen Vorsprung von 3,7 Sekunden herauszufahren, bis sich Perez als Zweiter durchgesetzt hatte. Damit war die Nummer gelaufen. Für Verstappen lief es nach dem Pech mit dem Unterboden maximal gut, für seinen WM-Rivalen maximal schlecht. Statt 25:6 Punkten für Leclerc stand es am Ende 12:6. Die 13 Punkte Differenz könnten Ferraris Nummer eins am Saisonende noch fehlen.

Safety Car schlecht für Hamilton
Lewis Hamilton kam mit einem Rückstand von 6,2 Sekunden als Dritter in Sichtweite des Siegers ins Ziel. Er drehte die schnellste Runde, lag acht Runden in Führung und sah zwischenzeitlich wie ein möglicher Sieger aus. Zum ersten Mal in diesem Jahr kämpfte der siebenfache Weltmeister auf Augenhöhe mit den Red Bull und Ferrari. Immer dann, wenn die Reifen in den roten Bereich gingen, war Hamilton der schnellste Mann im Feld. Kein Auto schont seine Reifen so wie der Mercedes.
Doch hätte Hamilton gewinnen können? Nach dem ersten Start musste man ihm diese Chance einräumen. Da lag der Fünfte der Startaufstellung schon auf Platz 3 hinter Verstappen und Sainz. Der Rennabbruch aber stellte die Uhren auf Null. Im zweiten Anlauf war es für Hamilton schon schwieriger, zum achten Mal in Silverstone zu gewinnen. Seine größte Chance wäre noch gewesen, wenn es keine Safety-Car-Phase gegeben hätte.
Hamiltons Reifen waren um acht Runden frischer als die von Leclerc und um 13 Runden als die von Sainz. "Sainz hätten wir gekriegt, bei Leclerc sind wir uns nicht sicher. Der Ferrari war verdammt schnell auf den harten Reifen, und er hielt sie auch ganz gut in Schuss", urteilten die Strategen. Auch beim Topspeed hatte der Mercedes keine entscheidenden Vorteile. Leclerc und Hamilton neutralisierten sich mit 326 km/h.
Im Rückblick nannte der Kommandostand fünf Gründe, warum Hamilton dieses Rennen nicht gewonnen hat. Erstens: Das Rückversetzen auf die alte Startaufstellung nach dem Rennabbruch. Damit war Hamilton wieder Fünfter. Zweitens: Der schlechte erste Boxenstopp mit 4,3 Sekunden Standzeit, der ihn kurz hinter den überrundeten Daniel Ricciardo warf und Zeit auf die Ferrari kostete. Drittens: Der bescheidene Re-Start, der den Ex-Champion in die Fänge von Perez trieb. Viertens: Sergio Perez, der Hamiltons Vormarsch stoppte, so dass er fünf Runden brauchte, um an Leclerc auf dessen uralten harten Reifen vorbeizukommen.

Mercedes heizt zu langsam Reifen auf
Das größte Handikap des Mercedes-Piloten aber war das schleichende Aufwärmen der Reifen. Egal, welche Mischung. Medium beim Start, hart zwischendrin, soft am Ende. "Der Ferrari hat in der ersten Runde mit harten Reifen sieben Zehntel auf die Fahrer mit alten Reifen verloren. Bei uns waren es mehr als zwei Sekunden", rechneten die Strategen vor.
Deshalb durfte Mercedes von einem Undercut gar nicht träumen. Nur ein Overcut hätte funktionieren können, doch am Ende von Hamiltons ersten Stint froren die Ferrari-Piloten ihren Rückstand bei 18 bis 19 Sekunden ein. Für Hamilton wäre es auch ein Tabu gewesen, während der Safety-Car-Phase wie Leclerc auf der Strecke zu bleiben, um eine Position gewinnen. "Mit unseren Aufwärmproblemen hätten uns die anderen mit frischen Soft-Reifen aufgefressen", hieß es bei Mercedes. Ferraris Angst, Hamilton hätte bei einem Boxenstopp von Leclerc das Gegenteil gemacht, war also unbegründet.

Taktikfehler von McLaren
Im Duell hinter den drei Topteams waren McLaren und Alpine ungefähr gleich schnell. Das Duell wurde durch einen Taktikfehler von McLaren zugunsten von Fernando Alonso entschieden. Lando Norris wurde in der Safety-Car-Phase eine Runde zu spät an die Boxen gerufen. Alpine verbuchte das erste Rennen mit dem großen Upgrade als Erfolg. "Wir hatten auf der härtesten Strecke die Reifenabnutzung im Griff. Fernando auf den Medium-Reifen, Esteban auf den weichen Gummis. Das war vorher immer unser größtes Problem", atmete Einsatzleiter Alan Permane auf. Und noch etwas: "Silverstone ist eine McLaren-Strecke. Wenn wir sie dort schlagen können, ist der vierte Platz in der WM realistisch."
Max Verstappen fuhr mit dem Rücken zur Wand. Wann kann man schon mal sagen, dass der Weltmeister eine Gruppe mit Ocon, Schumacher, Magnussen, Vettel, Latifi und Ricciardo aufhält? Der kaputte Unterboden drückte nicht nur aufs Tempo. Er verschliss auch die Reifen stärker.
Haas spielte klug eine Doppelstrategie. "Wenn wir das gleiche machen, verlieren im schlimmsten Fall beide", verteidigte Einsatzleiter Ayo Komatsu den Taktik-Split. Diesmal war Mick Schumacher der schnellere Fahrer. Deshalb bekam er in der Safety-Car-Phase die logische Taktik. Auch Schumacher wechselte auf Soft. Kevin Magnussen ging auf eigenen Wunsch ins Risiko. Er blieb auf seinen 19 Runden alten Medium-Reifen auf der Strecke und gewann gegen Verstappen und Schumacher zwei Positionen, die er nach dem Re-Start umgehend wieder verlor.
Magnussens Glück war, dass Aston Martin seine Fahrer auf gebrauchte Medium-Reifen stellte, obwohl Sebastian Vettel und Lance Stroll jeweils vier frische Soft-Garnituren als Option in der Hinterhand hatten. Vettel kostete das den möglichen siebten Platz, Stroll einen WM-Punkt. Gegen den Kanadier konnte sich Magnussen trotz alter Medium-Reifen verteidigen.