Der Hungaroring galt über Jahre hinweg als das Monaco ohne Leitplanken, weil er eine Strecke der langsamen Sorte mit kaum einer Überholmöglichkeit war. Ayrton Senna raste bei der Premiere in Budapest 1986 mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 161,547 km/h auf die Pole Position. Damit war der Hungaroring im Schnitt etwas mehr als 16 km/h schneller als Monte Carlo. Inzwischen beträgt das Delta mehr als das doppelte.
Die Monaco-Pole 2022 erzielte Charles Leclerc mit einem Schnitt von 168,309 km/h. George Russell lenkte seinen Mercedes mit 203,828 km/h um den Hungaroring. Das langsame Image hat die 4,381 Kilometer lange Rennstrecke also abgeschüttelt. Überholen ist dort immer noch eine Kunst, wenn es trocken bleibt. In 22 von 37 Ausgaben gewann einer der beiden Fahrer aus der ersten Startreihe. Jenson Button siegte 2006 in Budapest, brauchte dafür aber wechselnde Verhältnisse.

Vettel Überholkönig von Ungarn
In diesem Jahr erlebten die 100.000 Zuschauer eine Überholshow mit insgesamt 55 Manövern, obwohl ausschließlich mit Slicks gefahren wurde. Zuvor hatten die Ingenieure das Überhol-Delta des Grand Prix’ mit 1,5 Sekunden beziffert. So viel schneller sollte man schon sein, um am direkten Gegner vorbeizukommen.
Es nieselte nur zu Beginn und am Ende des Rennens. Die Fahrer konnten trotzdem Vollgas geben. Die Überholkönige hießen Sebastian Vettel mit neun Manövern, Max Verstappen mit deren acht, Lance Stroll mit sechs, Pierre Gasly mit fünf sowie Lewis Hamilton und Sergio Perez mit jeweils vier erfolgreichen Attacken.
Es mussten schon mehrere Faktoren zusammenkommen, damit sich aus einer überholfeindlichen eine überholfreundliche Rennstrecke entwickelte. Die neuen Autos waren der erste Ausschlaggeber. "Es war etwas einfacher, zu folgen", schildert Max Verstappen. "Aber trotzdem schwer zu überholen." Damit die Aufgabe überhaupt möglich war, brauchte es eine verdrehte Startaufstellung, wenig Grip auf dem Asphalt, Wind, verschiedene Strategien und Reifenfolgen.
Wind verstärkt DRS-Effekt
Der Ausgang der Qualifikation ebnete den Weg zu einem spannenden Rennen. George Russell an der Spitze mit den zwei schnelleren Ferrari direkt hinter sich. Lewis Hamilton auf dem siebten Startplatz. Schlechter, als er mit funktionierendem DRS in Q3 abgeschnitten hätte. Max Verstappen auf Position zehn. Ohne das Problem mit der MGU-K wäre der WM-Führende ein Kandidat für die Pole gewesen. Sergio Perez als Elfter dahinter. Der Mexikaner hatte die Hürde zu Q3 gerissen. Die Aston Martin im hinteren Mittelfeld, obwohl man vom Speed sogar schneller als die Alpine war.
Mit dieser Startreihenfolge musste es zu Verschiebungen im Feld über die Distanz von 70 Runden kommen. Der starke Wind, der mit rund 15 km/h den Autos auf der Zielgeraden entgegenblies, verstärkte den Effekt von DRS und Windschatten. Weil er im Mittelabschnitt von hinten wehte, sorgte er für Abtriebsverlust an den Autos und sorgte in den langgezogenen Kurven für Untersteuern. Es litt also auch der Vordermann, und nicht nur der Hinterherfahrende.
Regen am Samstag und am Sonntag hatte den Gummi von der Rennstrecke gespült. Der Asphalt war mit etwa 28 Grad Celsius auf der kalten Seite. In solchen Verhältnissen ist derjenige im Vorteil, der die Reifen schnell ins Arbeitsfenster fährt. Wer das nicht schafft, rutscht hilflos herum, und wird zu einem leichten Opfer.

Alle Reifen im Einsatz
Das bringt uns zu den Strategien. Am Start teilte sich das Feld: zehn Piloten starteten auf der weichsten Mischung (C4), zehn Piloten auf den Mediums (C3). Unterschiedliche Reifenwahl sorgt für Verschiebungen. Weil der eine mal mehr Grip hat als der andere. In ihre Strategie bauten neun Fahrer auch die härteste Mischung (C2) ein – für den Hungaroring eigentlich unbrauchbar, weil sie zu hart war. Die tieferen Temperaturen führten dazu, dass die Autos auf den harten Reifen noch weniger Haftung fanden.
Sie rutschten hingegen wie auf Eis umher. Statt den Reifenkern anzuheizen, erhitzte sich nur die Oberfläche durch das Herumrutschen. So entsteht ein Teufelskreis. Charles Leclerc bekam es zu spüren. Er musste Verstappen gleich zwei Mal passieren lassen. Später schnappte ihn sich noch Russell. In Runde 54 zog Ferrari die Reißleine, als es bereits zu spät war. Auf den Softreifen lief Leclerc hinten heraus noch ins Graining. So glückte ihm nicht einmal die schnellste Rennrunde. Weltmeister Verstappen meint: "An einem sonnigen Tag wäre es ein ziemlicher Kampf geworden, zu überholen." So ergaben mehrere Faktoren die perfekte Mischung für einen guten Grand Prix vor der Sommerpause.
Überholt wurde an unterschiedlichen Stellen. Am Ende der Zielgeraden und vor Kurve zwei – mit DRS-Unterstützung. Aber auch vor Kurve vier, wenn der vorausfahrende Fahrer davor ins Schlingern geriet. So wie Alonso in Runde 5 gegen den späteren Sieger Verstappen.