Charles Leclerc ist eine Bank in Monte Carlo. In den letzten drei Jahren stand der Mann, der im Fürstentum aufgewachsen ist, zwei Mal auf der Pole-Position. Diesmal könnte es die dritte Quali-Bestzeit werden. Leclerc beherrschte den ersten Trainingstag so, als würde er in einem McLaren sitzen und nicht in einem Ferrari. Bestzeit am Morgen, Bestzeit am Nachmittag. Schnellster auf den harten Reifen, Schnellster auf den weichen. Vorne im Longrun.
Doch Leclerc fährt immer noch einen Ferrari. Und der mag angeblich keine langsamen Kurven. Dass Leclerc trotzdem das Maß aller Dinge war und Lewis Hamilton mit einem dritten Platz die gute Form der roten Autos bestätigte, liegt am einzigartigen Layout dieser Strecke. Es gibt nur eine wirklich schnelle Passage.
Ferrari konnte sich beim Setup voll auf langsame Kurven konzentrieren. Damit werden die Kompromisse geringer. Und damit war das Auto kein Störfaktor mehr, und der Vorjahressieger konnte seine Monaco-Qualitäten ausspielen. Nur in der Schwimmbad-Passage verlor Leclerc Zeit auf die favorisierten McLaren. Hamilton bestätigte mit der drittschnellsten Zeit, dass Ferrari nicht eine Show abzieht. "Die sind ehrlich schnell", zog McLaren-Chef Zak Brown seinen Hut.
Der Amerikaner hat nach dem ersten Trainingstag in den Häuserschluchten eine klare Reihenfolge im Kopf: "Ferrari, McLaren und Red Bull." Mercedes konnte auf den Plätzen neun und zwölf noch keine Akzente setzen, doch im Camp der Silberpfeile gibt man sich noch nicht auf. Tenor: Wir sind besser als es das Ergebnis vermuten lässt.
Obwohl auch mit der neuen Regel für das Rennen die Startaufstellung die halbe Miete ist, waren diesmal die Longruns bedeutsamer als sonst. Nach Expertenmeinung gibt es dieses Jahr keine Bummelfahrt an der Spitze, um Undercuts zu verhindern. "Du wirst versuchen, Lücken zu schaffen, die dir später helfen könnten", sagt Oscar Piastri. Damit mussten die Teams herausfinden, wie lange ein Satz Reifen bei verschärftem Tempo im Ernstfall hält. Leclerc lag auf den harten Reifen logischerweise vorn. Hamilton war auf dem Medium-Gummi nicht viel langsamer. Dann folgten Carlos Sainz und Lando Norris.
Oscar Piastri verzichtete nach seinem Ausrutscher in Sainte-Dévote auf einen Dauerlauf. Der Australier versuchte, Vertrauen zurückzugewinnen. Isack Hadjar hatte gleich zwei Mal mit den Leitplanken Kontakt. "Sie standen etwas zu nah für ihn an der Strecke", amüsierte sich Red-Bull-Sportchef Helmut Marko.

Charles Leclerc und Ferrari überzeugten am Freitag (23.5.) in Monaco. Der Sieg beim Klassiker ist drin für die Scuderia.
Sechs Dinge, die Sie wissen müssen:
1) Wieso ist Ferrari ein Siegkandidat?
Am Donnerstag redete Charles Leclerc seine Chancen klein. "Unsere Schwachstelle sind langsame Kurven. Monte Carlo besteht nur aus langsamen Kurven." Einen Tag später fuhr der Hausherr die mit Abstand schnellsten Zeiten. Nicht ein Mal, nein zwei, drei und vier Mal. Auf den harten C4-Reifen, wie auf dem weichen C6-Gummi. Mit 1.11,355 Minuten hängte der Vorjahres-Sieger den Rest der Welt um drei Zehntel ab. Nur Oscar Piastri und Lewis Hamilton kamen in seine Nähe. Piastri fuhr seine Zeit aber erst 13 Minuten später, als die Strecke schon deutlich mehr Grip hatte. Hamilton fehlten auf den Monaco-Spezialisten 0,105 Sekunden. "Ich komme mit dem Auto immer besser zurecht." Auf den harten Gummis war Leclerc vier Zehntel schneller als Piastri mit den Medium-Reifen.
Alle stellten sich die gleiche Frage: Was macht den Ferrari SF-25 plötzlich so schnell? Außer den Monaco-spezifischen Änderungen am Lenkeinschlag vorne und Heckflügel und Beam-Wing war es das gleiche Auto, das in Imola nur auf die Startplätze elf und zwölf kam. Die Antwort ist simpel. Monte Carlo kommt Autos mit einem kleinen Arbeitsfenster entgegen. Die Ingenieure können sich beim Setup auf einen Geschwindigkeitsbereich konzentrieren.
Keiner muss bei der Einstellung der Bodenfreiheit Angst vor zu starker Abnutzung der Bodenplatte haben. Mit etwas mehr Fahrzeughöhe hat der Ferrari auch einen ordentlichen mechanischen Grip. Leclerc mahnte zur Vorsicht: "Am ersten Tag sucht jeder noch seine Referenzpunkte. Es ist noch zu früh, um zuversichtlich zu sein. Die gute Nachricht ist, dass ich mich im Auto wohlgefühlt habe, egal welche Reifenmischung wir probiert haben."

McLaren und auch Red Bull, vor allem Verstappen, müssen sich in Monaco noch steigern.
2) Wo sind die McLaren und Verstappen?
Die McLaren-Piloten landeten auf den Plätzen zwei und vier. Oscar Piastri kam den Ferrari-Zeiten erst zwölf Minuten vor Ende des zweiten Trainings nahe. Lando Norris blieb drei Zehntel dahinter. Beide hatten keine sauberen Runden. Doch das soll keine Ausrede sein. "Ferrari ist schneller als wir. Im Moment sehe ich keine Chance, wie wir Leclerc schlagen sollen", gibt McLaren-Chef Zak Brown zu. Man kann nicht sagen, die McLaren-Fahrer hätten es nicht probiert. Piastri zerstörte bei einem Ausrutscher in der Sainte-Dévote-Kurve Nase und Frontflügel, konnte aber nach einer schnellen Reparatur weiterfahren.
Für Max Verstappen begann der Tag erfreulich. Endlich mal wieder ein Freitag, bei dem das Auto von Anfang an passte. Der zweite Platz des Niederländers ließ Sportchef Helmut Marko jubeln. "Wir sind hier bei der Musik. So gut waren wir in Monte Carlo schon lange nicht mehr. Und Max hatte noch gut Reserven." Dreieinhalb Stunden später sah es schon nicht mehr so gut aus. Verstappen fehlten 0,713 Sekunden auf die Bestzeit. Auch die McLaren waren klar schneller, dazu ein paar Außenseiter. Der Longrun verbesserte die Laune ebenfalls nicht. Beim Versuch, das Setup zu optimieren, ging der Schuss nach hinten los. "Am Nachmittag kam das Untersteuern zurück", erzählte Marko. Dass man weit von der Normalform entfernt war, zeigt der Vergleich zu Teamkollege Yuki Tsunoda. Der Japaner lag nur vier Tausendstel zurück. Und er saß noch in einem Red Bull mit einer älteren Spezifikation. "Seit Yukis Unfall in Imola sind Ersatzteile knapp", verrät Marko.

Mercedes galt vor dem Trainings-Freitag als Geheimfavorit in Monaco. Davon war am ersten Tag noch nichts zu sehen.
3) Hat Mercedes eine Chance?
Eine Zeit lang sahen die Mercedes wie Mitfavoriten aus. Doch dann tauchten sie ins Mittelfeld ab. Es dauerte zu lange, bis die Vorderreifen auf Temperatur kamen. Und im letzten Sektor zeigten die Hinterreifen schon leichte Anzeichen von Überhitzung. Andrea Kimi Antonelli zeigte einen guten Longrun, doch eigentlich hatte man mit Mercedes eher auf einer Runde gerechnet. George Russell fasste sogar einen Platz in der ersten Reihe ins Auge. Am Ende fehlten ihm 0,737 Sekunden auf die Bestzeit. Den Ingenieuren steht viel Datenstudium bevor, um das Auto in ein gutes Fenster zu bringen. Dafür fühlt sich Mercedes für das Rennen gut gerüstet. Beide Fahrer haben den harten Reifen nicht angefasst. Der wird für den Sonntag konserviert.

Fernando Alonso ist nach den ersten Sessions am Freitag ein Geheimkandidat für ein starkes Qualifying.
4) Wer ist der Geheimfavorit: Alonso, Albon oder Lawson?
Liam Lawson, Fernando Alonso und Alexander Albon zeigten mit den Plätzen fünf, sieben und acht, dass sie den Favoriten in die Suppe spucken können. Lawsons Zeit von 1.11,823 Minuten kam überraschend. Er fuhr sie allerdings wie sein sechstplatzierter Teamkollege Hadjar relativ spät im Training, was die wahre Stärke des Autos relativiert, weil die Strecke mit jeder Minute schneller wurde. Fernando Alonsos stellte seine persönliche Bestzeit elf Minuten vor Lawson und 17 Minuten vor Hadjar auf. Der Aston-Martin-Pilot legte dafür einen schwachen Longrun auf die Bahn. Auch die Toro-Rosso-Piloten waren im Dauerlauf eher auf der langsamen Seite. Alle Disziplinen zusammengezählt, stellt Williams mal wieder den gefährlichsten Außenseiter. Alexander Albon verlor eine halbe Sekunde auf die Bestzeit, war dabei aber früh dran. Der Longrun von Teamkollege Carlos Sainz war schneller als der von Lando Norris. Albon sieht noch Raum für Verbesserung: "Wir waren mit unserem Auto noch nicht ganz glücklich."

Der Deutsche Nico Hülkenberg ist zuversichtlich, dass es mit seinem Sauber in Monaco zu Punkten reichen könnte.
5) Reicht es diesmal für Sauber-Punkte?
Nico Hülkenberg lag lange in den Top Ten. Gabriel Bortoleto leistete ihm zehn Minuten später Gesellschaft und überholte den Deutschen sogar. Auch wenn Hülkenbergs 16. Platz wenig vielversprechend klingt, durfte Sauber zufrieden sein. Der Deutsche war seine schnellste Zeit so früh wie Alonso gefahren, zu einem Zeitpunkt, an dem die Strecke noch in einem schlechteren Zustand war. Hülkenberg fühlte sich in beiden Trainingssitzungen wohl im Auto und legte auf den harten Reifen eine beachtliche Rennsimulation auf die Bahn. "Wir haben eine gute Basisabstimmung gefunden, jetzt geht es ans Feintuning."

Der Medium-Reifen könnte in der Qualifikation ein Joker sein.
6) Ist der Medium-Reifen wieder der Joker?
Red Bull will den Medium-Reifen für die Qualifikation nicht ausschließen. "Er ist eine Option", bestätigt Sportchef Helmut Marko. Deshalb wählte man für das erste Training je einen Satz hart und Soft. Um sich den Medium-Reifen für Samstag aufzuheben. Pirelli glaubt, dass die meisten Teams dem C6-Reifen vertrauen werden. "Je wärmer es ist, umso weniger haben die Fahrer das Gefühl, dass der Reifen schwimmt." Die neue Zweistopp-Regel spricht gegen den Einsatz des Medium-Reifen in der Qualifikation. Wegen der ungewissen Ausgangslage munitionieren sich die Teams lieber mit drei frischen Garnituren der härteren Mischungen C4 und C5. McLaren, Mercedes und Hamilton sparten sich je zwei Sätze harter Reifen und einen Medium. Red Bull und Leclerc machten es umgekehrt.